20. Jahrgang | Nummer 19 | 11. September 2017

Holocaust erklären – eine Annäherung?

von Herbert Bertsch

Es gibt häufig Produkte von Autoren und Verlagen, die mit Ansprüchen und Ankündigungen des Titels nicht oder nur zum Teil übereinstimmen, was unterschiedliche, aber wohl immer Gründe hat; etwa ein „Zeitgeist“, die Marktlage, auch der Reputationsstatus von Verlag oder Autor. Weniger häufig, dass sie dennoch von Testern empfohlen werden, wie hier geschieht: Peter Hayes: „Warum? Eine Geschichte des Holocaust“, aktuell im Campus Verlag.
Der Umschlagtext führt ohne Umschweife zu Anliegen und Verheißung, für ein Sachbuch in empfehlenswerter Manier: „Warum geschah der Holocaust? Warum wurden während des Nationalsozialismus Millionen jüdischer Menschen ermordet? Peter Hayes ist der erste Historiker, der die Frage nach dem ‚Warum‘ ins Zentrum eines Buches stellt. […] So bietet dieses Buch einen klugen und kundigen Überblick über die Geschichte der Vernichtung der europäischen Juden.“ Dazu die Selbstbewertung von Absicht und Ergebnis durch den Autor: „Dieses Buch spiegelt meine Überzeugung wider, dass sich der Holocaust genau wie jede andere menschliche Erfahrung erklären lässt, auch wenn das nicht einfach ist.“ Letzterem wollen wir gern und vorbehaltlos zustimmen.
Ob das Alleinstellungsmerkmal des „ersten Wissenschaftlers“ mit diesem Anliegen bei rund 16.000 in der Library of Congress erfassten Büchern unter dem Rubrum „Holocaust“ zutrifft, kann und muss hier nicht erörtert werden. Eine Geschichte (nicht „die“ Geschichte) mit originellen Fragestellungen, Antworten und nicht alltäglicher Systematik ist es allemal. Diese Empfehlung also vorneweg, zusätzlich begründet durch das Fachurteil von Wolfgang Benz, wenn auch mit einer Nachfrage bei ihm: „Natürlich (Soll das eine Unmöglichkeit statuieren? – H.B.) muss Peter Hayes die Antwort auf das große Warum schuldig bleiben; aber zu vielen Problemen des Holocaust gibt er schlüssigen, wohl erwogenen und nachvollziehbaren Bescheid. In der Einführung verspricht Hayes eine ‚gründliche Bestandsaufnahme‘. Das ist ihm gelungen. Mit dem ‚Warum‘ müssen wir weiterhin leben.“ So zu lesen in der Süddeutschen Zeitung. Unterstreichen wir: Das „Warum“ im Titel und im wissenschaftlichen Anspruch kann nicht nur eine analytische Darstellung sein wie etwa: „Wie konnte das geschehen?“ oder: „Was ist da geschehen, mit welchen Auswirkungen auf die Gegenwart und die vermutete Zukunft?“ Doch auch so bleibt die Arbeit eine begrüßenswerte Anreihung zum Fundus mit dem Erkenntnisgewinn von einer Zwischenbilanz des Autors – siebzig Jahre danach. Hier bleibt zu informieren, dass der Text wenige Monate zuvor in New York erschienen ist, dort mit dem Titel: „Why? Explaining the Holocaust“. Da klingt das Anliegen noch betonter.
Als Kenner des Forschungsstandes, der aktuellen Diskussion und wohl auch der Marktlage lässt er den deutschsprachigen Leser an dem Ergebnis teilhaben mit der Erkenntnis: „Holocaust“ ist kein abgeschlossener Forschungsbereich mehrerer Disziplinen mit immer noch guten materiellen Voraussetzungen zur Erinnerung, sondern da wird auch Gegenwart exekutiert mit Ergebnissen, deren Substanz sich häufig aus politischen Interessen erklärt. Also eine gegenwärtige Draufsicht, verständlicherweise nicht tagesbezogen. Aber manches kann man gleichsam als vorausgeschaut interpretieren, somit auch als Anregung.
Neben dem Inhalt ist die Konstruktion seines Materials als Information und bewertende Meinung, in acht Kapiteln als Fragen formuliert, bemerkenswert. Der Autor erklärt diese Machart aus der Erfahrung als vorlesender Wissenschaftler und von Studenten so gern angenommen. Unser Test im Zitat der Kapitelüberschriften:
„Ziele: Warum die Juden?”
“Angreifer: Warum die Deutschen?”
“Eskalation: Warum Mord?”
“Vernichtung: Warum so schnell und so radikal?”
“Die Opfer: Warum leisteten nicht mehr Juden mehr Gegenwehr?”
“Die Heimatländer: Warum waren die Überlebensraten so unterschiedlich?”
“Zuschauer: Warum kam nur so wenig Hilfe von außen?”
“Nachspiel: Welches Erbe? Welche Lehren?“
Allein schon die Auswahlbibliografie ersetzt manchen Zettelkasten. Dazu mag dieser Text des Autors passen: „Bei der Beantwortung dieser Fragen bringe ich ein Fachwissen ein, das bei Holocaust-Forschern eher ungewöhnlich ist. Ich bin gelernter Wirtschaftshistoriker. Das heißt nicht, dass ich primär materielle Gründe für den Mord sehe (tatsächlich sage ich, dass die materiellen Gründe gegenüber den ideologischen Motiven zweitrangig waren). Aber mein Hintergrund sensibilisiert mich für Zahlen und ihre Bedeutung, und ich nutze oft die Erklärungskraft von Zahlen.“
Ein interessanter Ansatz, zumal, wenn im Allgemeinen häufig Emotionen die Basisdaten überspülen. Dazu gehört neben fundiertem Wissen auch eine rückhaltlose Polemik, bis hin zu dem „größten Mythos im Zusammenhang mit dem Holocaust […], die Behauptung, er habe gar nicht stattgefunden.“ Wer könnte sich von solchen Lügen in der Gegenwart wohl Gewinn versprechen und zu welchem Zweck? Wenn der Autor auch darauf nicht nur Antworten weiß, sondern den Leser zu eigenen Erkenntnis hinführt, mag sein Vorlesungsmaterial und dessen professionelle Präsentation von zusätzlichem Vorteil sein, vielleicht als Lern- und Lehrbuch für Interessenten an Übersichtsliteratur.
Der Autor: Peter Francis Hayes, 1946 in Boston geboren, seit 2016 emeritierter Professor für deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts, war Inhaber des Theodore-Zev-Weiss-Lehrstuhls für Holocaust Studien; Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats des United States Holocaust Memorial Museum. 2005 berief ihn der damalige deutsche Außenminister Joseph Fischer in eine unabhängige Historikerkommission zur Aufarbeitung des Verhaltens des Auswärtigen Amtes und seines Personals in der Nazizeit und danach; so wurde er Mitautor von „Das Amt und die Vergangenheit“ (2010); auch Autor von „Die Degussa im Dritten Reich“ (2004) und (Mit-)Herausgeber von „,Arisierung‘ im Nationalsozialismus“ (2000).

Peter Hayes: Warum? – Eine Geschichte des Holocaust. Campus Verlag, Frankfurt a. M. 2017; 445 Seiten, 29,95 Euro.