20. Jahrgang | Nummer 20 | 25. September 2017

Der Töne-Zauberer Peter Gotthardt

von Wolfgang Brauer

Der popmusikfreundliche Thaddäus Faber warf vor einiger Zeit im Blättchen die Frage auf, wie es denn mit der vertrackten Nähe von „Spicks and Specks“ der Bee Gees (1966) und den Auftakt-Klavierakkorden von „Wenn ein Mensch lebt“ aus dem DEFA-Kultfilm „Die Legende von Paul und Paula“ (1973) bestellt sei. Faber vermutete zumindest „intensive inspirierende Schwingungen“. Wir können ihn beruhigen: Die Wirklichkeit ist schlimmer. Der Film-Komponist Peter Gotthardt gibt selbst zu, dass die Bee Gees kräftig Pate gestanden hatten. Ich hatte ihn dieser Tage zu Gast im Berliner Tschechow-Theater, und er erzählte die Geschichte dieser Musik.
Der Anlass war eine Tragödie. Im Mai 1971 starb die Regisseurin Ingrid Reschke („Kennen sie Urban?“/1971) bei einem Autounfall mitten in den Dreharbeiten zu Ulrich Plenzdorfs Buch „Die Legende von Paul und Paula“ – Reschke hatte übrigens weder Angelica Domröse noch Winfried Glatzeder auf der Besetzungsliste. Heiner Carow übernahm den Film. Ganz nebenbei: Auch Carow wollte ursprünglich nicht die Domröse, aber – dem Gott des Filmes sei Dank – er besann sich… Für die Musik wollte er aber von Anfang an Peter Gotthardt. Mit dem hatte Heiner Carow schon für seinen Film „Die Russen kommen“ (1968) zusammengearbeitet. Der wurde allerdings noch im Entstehungsjahr verboten, offensichtlich eine Nebenwirkung der Niederschlagung des „Prager Frühlings“. Der Titel wurde von übereifrigen Funktionären wohl als Provokation verstanden. Gotthardt, klassisch ausgebildet und nach eigenem Eingeständnis seinerzeit eher mit einer Null-Beziehung zur Unterhaltungsmusik – in den frühen 1970er Jahren wurde in Deutschland-West wie -Ost noch peinlich auf die Trennung zwischen „U“ und „E“ geachtet –, scheiterte mit (fast) allen Versuchen, Paula klassisch angehauchte Musik zu unterlegen. Also klemmte er sich tage- und nächtelang ans Radio und stieß irgendwann auf Slade und die Bee Gees. Das war’s. „Zu Paula passte Pop“, erklärte Gotthardt 2013 dem MDR. Fehlte nur noch die Band. Auch die fand sich über den Rundfunk: eine damals den meisten noch vollkommen unbekannte Truppe namens „Die Puhdys“. Deren Texter Wolfgang Tilgner (der war damals Dramaturg am Berliner Friedrichstadtpalast und zugleich ein durchaus prägender DDR-Popmusik-Texter nicht nur für die Puhdys) hatte auf Gotthardts Musik einen furchtbaren Text unter dem Titel „Sieger, wo bleibt Dein Sieg“ gereimt. Dem standen die Haare zu Berge. Regisseur und Komponist fiel am Ende nichts anderes ein, als Plenzdorf in die Mangel zu nehmen, er möge doch… Dessen verzweifelte Gegenwehr, er sei doch kein Lyriker, nutzte ihm nichts. Am Ende Ende erschien er mit dem Alten Testament unter dem Arm – und schrieb auf der Basis von Prediger 3, 1-11 einen der wohl nachhaltigsten deutschsprachigen Rock-Texte aller Zeiten.
Überhaupt kam Gotthardt – möglicherweise spielt da das „Paula“-Erlebnis eine Rolle – immer wieder auf Alt-Testamentarisches zurück. 1988 entstand der TV-Film „Gabriel, komm zurück“ (eine Co-Produktion des DDR-Fernsehens mit TV 1 Helsinki in der Regie von Hannu Kahakorpi; mit einer Spitzenbesetzung!). Peter Gotthardt lieferte nicht nur die Musik, den von Dirk Michaelis gesungenen Text „Komm, liebste Freundin“ lieferte er gleich mit. Bibelfeste Leser werden natürlich sofort das Hohelied Salomos wittern – und recht haben sie! Das Liebeslied „Du musst mich nur berührn“ aus „Insel der Schwäne“ (1983 unter der Regie von Hermann Zschoche nach dem Roman von Benno Pludra) hatte übrigens auch Plenzdorf geschrieben.
Sicherlich lieferte das DDR-Filmimperium eine Menge Durchschnitt und etlichen Schrott. Aber hinter seinen Spitzenleistungen standen Regisseure, denen es möglich gemacht wurde, einen Stoff auch reifen zu lassen. Hinter denen wiederum standen Qualitätsautoren – auch wenn die Zensurgremien ihnen oftmals das Leben zur Hölle machten. Zwei Jahre nach „Paul und Paula“ kam „Ikarus“ von Heiner Carow in die Kinos. Ein Film über einen Jungen, der zwischen die Fronten eines bösartigen Rosen-Krieges gerät. Peter Gotthardt schrieb dessen Musik und Bettina Wegner den Text zu „Eene meene mopel“, einem derart rotzfrech-erfrischendem Lied, das man sich heute nur verwundert die Augen reiben kann: Was, das war möglich? Ja, war es – aber auch „Ikarus“ entging nur knapp den Mühlen der Zensur. Gotthardt berichtete, dass der Film zur eigenen Rettung als Kinderfilm eingestuft wurde. Er meint, da nahm man es nicht ganz so genau. Parallel dazu entstand Rolf Losanskys „Blumen für den Mann im Mond“. Peter Gotthardt schrieb für ihn eine bezaubernde Musik.
Das Ehedramen-Thema griff Carow 1978 noch einmal auf: „Bis dass der Tod euch scheidet“ (der Debütfilm von Katrin Saß). Die Musik schrieb… natürlich Peter Gotthardt.
Knapp 15 Jahre nach „Paul und Paula“ sollte Gotthardt noch einmal Probleme mit der Adaption der Arbeit eines berühmten Kollegen bekommen. 1987 erschien Ralf Kirstens „Käthe Kollwitz – Bilder eines Lebens“. Dass das dramaturgisch recht spröde Buch in seiner filmischen Umsetzung einen Reiz erfährt, dem man sich nur schwer entziehen kann, ist sicher der Hauptdarstellerin Jutta Wachowiak zu danken – und der Musik Peter Gotthardts. Der wollte eigentlich die „Metamorphosen“ von Richard Strauß für den Film nutzen. Das wäre aber aus rechtlichen Gründen kaum bezahlbar gewesen. Also komponierte er „um“ und setzte zum Beispiel eine Oboe ein. Der Effekt ist ungeheuer. Überhaupt sind es oft die „kleinen“ Kunstgriffe, die die größte Wirkung entfalten.
Auch wenn in „Paul und Paula“ die Puhdys musikalisch dominieren: In einer Höhepunktszene des Filmes setzte Gotthardt Beethovens Violinkonzert ein. Dessen erster Satz, sagt er, sei aber für einen Spielfilm entschieden zu lang und Beethoven zusammenschneiden? Geht nicht – meinte er damals. Also kam er auf die Idee, dass die Domröse sich während des Open-Air-Konzertes auf dem Trümmerberg im Volkspark Prenzlauer Berg immer mal wieder die Ohren zuhalten muss – das gibt Paula die Möglichkeit, in einer Art Wachtraum ihre Liebe zu Paul an der Realität seines zu diesem Zeitpunkt erbärmlichen Verhalten zu messen. Ich kenne nur eine einzige, in meiner Erinnerung vergleichbare Einbindung eines klassischen Violinkonzertes. In Andrzej Wajdas „Das Birkenwäldchen“ (1970) setzt Andrzej Korzyński Felix Mendelssohn-Bartholdys d-Moll-Violinkonzert ähnlich verblüffend, allerdings stärker illustrierend ein. Bei der Gotthardtschen Ideenfindung wird die Musik dagegen gleichsam zur dritten Hauptdarstellerin. „Mitunter fällt mir etwas ein“, kommentiert er mit leichtem Understatement, wenn ihm im Gespräch das Lob des Künstlers etwas zu dicke daherkommt.
Filmmusik komponiert er nicht mehr. Seinesgleichen wird aktuell von den Produzenten nicht gebraucht. Der Ramsch auf den Leinwänden und Flachbildschirmen ist auch danach. Aber Gotthardt ist sich sicher, die Zeit der „unentbehrlichen, selbstlosen Helferin“ Filmmusik wird wiederkommen. Er selbst führt unverdrossen vor, wie wirkungsvoll die sein kann. Alle vier Wochen begleitet er die Stummfilmabende im Berliner Zeughaus-Kino. Chapeau!