19. Jahrgang | Nummer 5 | 29. Februar 2016

Musikalische Mirakel

von Thaddäus Faber

Die schlussendlich möglicherweise ins Mirakulöse tendierende Begebenheit, von der hier berichtet werden soll, ereignete sich zu fortgeschrittener Stunde, denn meist nächtens ziehe ich mir – dieses Geständnis wird mich gewiss jegliche ästhetische, moralische und sonstige Reputation im Blättchen kosten – „The Walking Dead“ rein. Die Zombie-Kult-Serie.
Deren fragile Balance zwischen Grauen und Faszination, die immer wieder in die erstere Richtung kippt, schlägt mich in ihren Bann, obwohl ich häufig den Pause-Button drücke – auch ohne Harndrang oder zu Ende gegangenes Knabberzeug. Ich kontrolliere dann, ob in der Küche vielleicht der Wasserhahn tropft, oder ob das Fenster im Flur verschlossen ist…
Mit solchen Intervallen hatte ich gegen Mitternacht gerade die 13. Folge der fünften Staffel („Forget“) überstanden und wollte mir den Abspann an sich schenken, als plötzlich dieser harte, mehrfach angeschlagene Klavierakkord in die Stille wummerte. Man kann ja bei plötzlichen Déjà-vus hinterher häufig den Ablauf nicht so wirklich exakt rekonstruieren, aber ich bin mir sicher: Spätestens beim dritten Anschlag erwartete ich instinktiv „Maschines“: „Wenn ein Mensch lange Zeit lebt…“ und dachte: „Nee?!“
Andererseits – ich hatte da gerade eindeutig den mit Abstand bekanntesten Klavierakkord der popkulturellen Hinterlassenschaft der DDR gehört. Das wurde der, nachdem „Die Legende von Paul und Paula“ 1973 in die Kinos gekommen war. Der Film beginnt mit eben diesem Akkord. Heiner Carows Streifen war ein Blockbuster, wenn auch nur zwischen Elbe und Oder, und die Pudhys-Titel des Soundtracks gehören bis heute zur Matrix der Jugend einer ganzen Generation. Wow!
Aber 40 Jahre später in einer US-Serie?
Das wäre wohl doch ein Ding der Unmöglichkeit.
Und das war’s dann auch, denn nicht Dieter Birr hob zu singen an, sondern – die Bee Gees. Die hatte ich damit zwar seit Jahrzehnten nicht mehr gehört, aber den Song sofort wieder parat – „Spicks and Specks“.
Der ist von 1966, wie schnell recherchiert war, und ich kannte ihn daher mit einiger Sicherheit bereits vor „Paul und Paula“. Das internationale Musikangebot von DT64 war damals sehr breit. Überdies dudelten von der DDR in Richtung BRD betriebene Propagandastationen wie der „Freiheitssender 904“ reichlich Westmusik, und für junge Leute fast in der gesamten DDR – mit Ausnahme des „Tals der Ahnungslosen“ um die sächsische Metropole Dresden – gab es immer auch noch ganz andere Möglichkeiten. Ungeachtet aller verbissenen Bemühungen der SED und der Staatsorgane gegen das Abhören von Westsendern.
Links zu beiden Titeln im Internet zu finden, bedurfte es nur einiger Mausklicks, und nachdem ich die Songs ein paar Mal durchgehört hatte, auch abschnittsweise im Wechsel, wunderte mich nur noch, wie nah sich beide kompositorisch stehen – weit über den Auftaktakkord hinaus. Geradezu zwillingshaft, wenn auch nicht unbedingt eineiig. Und ein Blick auf den Text der Bee Gees offenbarte einen weiteren Berührungspunkt: Schon in „Spicks and Specks“ ist die Rede von einer Freundin, die gegangen ist („The girl that I loved / She’s gone, she’s gone“).
Mein persönlicher, zugegebenermaßen laienhafter Gesamteindruck war unzweideutig. Um aber an dieser Stelle eine justiziable Behauptung zu unterlassen, will ich mich auf die Hypothese, respektive Mutmaßung beschränken, dass zumindest ohne intensive inspirierende Schwingungen seitens der Bee Gees der Pudhys-Song – hier schwanke ich zwischen eventuell und wahrscheinlich – erkennbar anders klänge.
Was die formale Seite anbetrifft: Auf der Homepage der Pudhys sind als Komponist und Texter lediglich Peter Gotthardt und Ulrich Plenzdorf ausgewiesen. Den ersteren könnte man übrigens noch fragen…
Vielleicht aber handelt es sich einfach um ein musikalisches Mirakel. Damit kenne ich mich aus, weil mir in einem früheren Leben schon einmal eines untergekommen ist.
Von einer Budapest-Reise Ende der 1970er Jahre hatte ich außer einer Steve-Wonder-LP – im gulaschkommunistischen Ungarn wurde dergleichen gegen recht teures Geld auch im staatlichen Handel feilgeboten – auch Klassisches mitgebracht. Sehr schöne Lautenmusik von Dániel Benkö mit Kompositionen von Bálint Bakfark (1507-1576) etwa. Und auch eine LP „The Classical and Baroque Bassoon“, darauf unter anderem das Quartett op. 19 Nr. 6 für Fagott, Violine, Viola und Violoncello in F-Dur von Carl Stamitz (1745-1801) mit seinem besonders eingängigen zweiten Satz (Rondo). Der wurde mir nachgerade zum Ohrwurm.
Als häufiger und schon als junger Mensch auch Literaturverfilmungen zugetaner Kinogänger ließ ich 1980 „Levis Mühle“, die DEFA-Verfilmung des gleichnamigen Romans von Johannes Bobrowski, nicht lange auf mich warten. Regie, Drehbuch und Musik – Horst Seemann. Ein sehr berührender Film mit der ersten Garde der DDR-Schauspielerei: Christian Grashof als Levin, Erwin Geschonneck als sein reicher deutscher Gegenpart, dazu Katja Paryla, Fred Düren, Käthe Reichel, Kurt Böwe, Elsa Grube-Deister und Eberhard Esche.
Zur starken Wirkung des Streifens trug nicht zuletzt die kongeniale Filmmusik bei. Deren wiederkehrendes Hauptmotiv hatte in meinen Ohren eine so frappierende Ähnlichkeit mit dem zweiten Satz aus Stamitz’ Quartett, dass ich damals brieflichen Kontakt zum Komponisten suchte und fand, um ihn – nur aus Neugier (ich war 27) – zu diesem Phänomen zu befragen.
Die Antwort Seemanns ließ nicht lange auf sich warten: Zwar kenne er Stamitz nicht, aber natürlich käme es vor, dass unterschiedlichen Komponisten auch mal Ähnliches einfiele…