20. Jahrgang | Nummer 18 | 28. August 2017

Vivantes. Ein Selbstversuch

von Erhard Weinholz

Verdammt noch mal, was ist mit meinem Knie los? Geschwollen, gerötet, schmerzt auch etwas. Aber ich bin mit meinem Freund P. verabredet, um ihm ein Exemplar meines neuen Buches in die Hand zu drücken, die Nummer 8 von 24, und das möchte ich nicht verschieben, denn wir haben uns lange nicht gesehen. Den Rückweg schaffe ich mit Müh’ und Not. Abends 38,8 Grad, am nächsten Morgen trotz Medikament 38,9 Grad. Die Ärztin, die einige Stunden nach meinem Anruf zu uns kommt, rät: Ab ins Krankenhaus!
Je älter man wird, desto mehr empfindet man Krankenhausaufenthalte als Zumutung, als Freiheitsberaubung gar. Vor bald fünfzig Jahren war ich längere Zeit Patient in Beelitz-Heilstätten, die Bedingungen waren bei weitem nicht so gut wie heute, aber damals machte mir das nichts aus. Die letzten Wochen lag ich in einem Sechsbettzimmer unter anderem zusammen mit einem jungen Transportpolizisten, einem LPG-Vorsitzenden und einem Zimmermann; es wurden Dinge erzählt, von denen ich sonst nie erfahren hätte, manches davon habe ich vor einigen Jahren in meinem Sandwegsheide-Buch verwendet. Jetzt bin ich 67, Dr. phil., soll das Zimmer mit Menschen teilen, die ich mir nicht aussuchen kann, soll Dinge essen, die ich sonst nicht einmal anschaue, und bin zum Fernsehen verdammt. Es ist aber, wie ich dann merke, alles nicht so schlimm.
Friedrichshain oder Prenzlauer Berg? fragt der Fahrer des Krankenwagens. Beide sind Vivantes-Krankenhäuser. Die Vivantes GmbH, 2001 gegründet, ist Landeseigentum und betreibt in Berlin neun Krankenhäuser, fast anderthalb Dutzend Pflegeeinrichtungen und über Tochtergesellschaften noch Küchen, Wäschereien und so weiter. Ein Großbetrieb der Branche also. Das Klinikum am Friedrichshain ist alles in allem moderner, man muss dort aber, wie ich jetzt höre, in der Notaufnahme länger warten. Na gut, denke ich, vielleicht vier Stunden statt drei, nicht so schlimm. Es werden aber sieben, und das ist nicht einmal viel. Eine Frau neben mir beginnt nach vierzehn Stunden zu meutern, ein Arzt eilt herbei, entschuldigt sich. Das Gesundheitssystem in der Bundesrepublik ist eines der besten der Welt, und trotzdem muss man warten, warten, warten. Warum, weiß ich nicht, es hat wahrscheinlich mehr als einen Grund. Immerhin erfahre ich bei der Aufnahme: 38,8 ist nur erhöhte Temperatur, Fieber beginnt erst mit 39,0°Grad.
In der ersten Krankenhausnacht komme ich kaum zum Schlafen. Ein junger Syrer liegt mit mir im Zimmer, der morgens um Drei operiert werden soll, aber dann doch erst anderthalb Stunden später an der Reihe ist. Es wird hier am Friedrichshain Tag und Nacht operiert, denn manche Unfallopfer brauchen sofortige Hilfe. Zwischendurch versorgt man die sonstigen Neuzugänge. Falls ich operiert werden sollte, dann hoffentlich nicht zu solchen Zeiten. Denn viele Leistungsparameter des Menschen stehen gegen Ende der Nacht auf tiefstem Stand.
Es gibt natürlich Wahlessen im Krankenhaus. Aber wer neu ist, nicht am Vortag bestellen konnte, bekommt stets fade schmeckendes Hähnchenbrustfilet, Kartoffeln, schleimige Soße und matschige Möhren. Für den nächsten Tag bestelle ich Frikassee, das in seiner gleichbleibend mittelmäßigen Qualität für mich zum Stammessen wird: eine halbwegs schmackhafte helle Soße, zartes Fleisch, Reis, der manchmal vom Warmhalten etwas ausgetrocknet ist, ein paar Champignonscheiben und zwei bis drei zigarettenstummelgroße Spargelstücke, die manchmal auch fehlen. Richtig satt wird man von diesem Essen allerdings nicht. Und zum Abendessen gibt es immer nur Wurst und Käse, nie Eier oder Fisch, Matjes zum Beispiel, Brathering oder Rollmops. Und zwar, weil ein Abstand zwischen der Verpflegung von Kassen- und Komfortpatienten spürbar sein soll. Es ist schon interessant, was bei Vivantes als Komfort gilt. Aber egal, ich will ja abnehmen, außerdem kann man die Cafeteria nutzen, die von der gleichen Vivantes-Tochterfirma betrieben wird, die auch die Speisen liefert.
Die Geschichte von Vivantes ist auch eine Konfliktgeschichte. Für Dienstleistungen wie eben das Catering wurden Tochterunternehmen gegründet, in denen nicht mehr der Tarifvertrag des öffentlichen Dienstes galt, und damit sank der Lohn der dort Beschäftigten beträchtlich. Also wurde immer wieder gestreikt. Bemerkenswert ist, dass sich das vorwiegend in den Zeiten eines rot-roten Senats abspielte. Als Unternehmer unterscheidet sich die Linke anscheinend in nichts vom klassischen Unternehmertum.
Um mein Knie ruhigzustellen, bekomme ich eine Schiene angelegt. Mit der Schiene am Bein kann ich keine Jeans anziehen, und in Unterhosen zur Cafeteria zu gehen schickt sich nicht. Meine Freundin B. kauft mir Jogginghosen, Marke Paris, also tres chic, trotzdem billig, zehn Euro, und zum Glück nicht grau, sondern dunkelblau. Denn wer graue Jogginghosen trägt, der ist gerichtet.
Nach drei Tagen werde ich aus innerbetrieblichen Gründen vom Friedrichshain in den Prenzlauer Berg verlegt, in den alten Blankenstein-Bau an der Fröbelstraße. Eines ist an beiden Standorten gleich: Die Mitarbeiter sind, von ganz, ganz wenigen Ausnahmen abgesehen, stets freundlich, hilfs- und auskunftsbereit. Und es gibt hier ebenso wie am Friedrichshain eine Cafeteria und im Aufenthaltsraum meiner Station eine Bibliothek. Doch das Angebot ist erheblich geringer. Ich habe in Bibliotheken dieser Art schon manches Mal interessante Stücke gefunden, ein altes Album mit Ansichten von Buenos Aires zum Beispiel oder ein sowjetisches Jugendbuch aus dem Jahre 1951, hinter dem ich schon lange her war. Auf meiner Station dagegen stehe ich vor gut neunzig Readers-Digest- und Weltbild-Romanbänden; mit dem restlichen Dutzend ist auch nicht viel los. Und in der Cafeteria bekomme ich um halb Zwei, eine Stunde vor Ladenschluss, kein Brötchen mehr. Aber ich habe, anders als am Friedrichshain, ein Radio bei mir im Zimmer, ein Grundig-Radio aus den Achtzigern, das sogar noch funktioniert. Und wenn ich bei mir im vierten Stockwerk im Fenster stehe, links und rechts schwarzfleckige, angeschlagene Klinkersteine, habe ich das Gefühl, dem Alltag entrückt weit oben aus einer uralten Burg zu schauen. Lange wird man dieses Vergnügen aber nicht mehr haben: 2018 soll das Krankenhaus trotz etlicher Anwohnerproteste geschlossen werden.