20. Jahrgang | Nummer 12 | 5. Juni 2017

Santorin – das Wunder im Meer

von Jürgen Brauerhoch

Die Kykladen: Felsbrocken, die aus dem Meer ragen. Der Dampfer legt an, bleibt in seinem Element, im Wasser. Anders in Santorin. Man erreicht nicht eigentlich Land, eine Insel, man fährt in eine Wunde. Das Meer, das den von der riesigen Eruption übriggebliebenen chaotischen Rest umschließt, nimmt eine tiefschwarze Färbung an, wie mit Blut gemischt.
Auch ohne sich eingehender über die Katastrophe informiert zu haben, die zu dieser Szenerie geführt hat, empfindet man das Wasser nicht als die See, sondern als gefüllten Krater, aus dem es jederzeit wieder zischend herausbrodeln kann. Auch ist es keine Insel, was man im letzten, rötlichen Abendschein nach zwölfstündiger Schiffreise von Piräus zu sehen bekommt; man steuert auf eine 300 Meter senkrecht aus dem Meer emporsteigende Bergkette zu, vielmehr einen Berggrat, scharf wie ein Messer. Und erst am nächsten Tag, auf der terrassenförmigen Ostseite des Landes, erkennt man, dass es tatsächlich eine Insel ist, wenn auch nur noch der übriggebliebene Rand. Von alldem erfahren die Kreuzfahrttouristen, die sich hier täglich in Scharen auf die Füße treten, absolut nichts. Zum Glück haben wir Zeit!
Geheimnisvoll dunkel und still wird es an der kleinen Hafenmole, nachdem der letzte, wacklige Bus sich mit einer ungeheuren Dieselwolke die Serpentinenstraße zur Abrisskante hinaufgekämpft hat. Man würde sich nicht wundern, wenn jetzt aus dem schwarzen Lavagestein in der Mitte des Kraters, an dem das Schiff kurz vor dem Anlegen vorbeifuhr, kleine Stichflammen aufloderten und schwefliger Geruch herüberkäme. Tatsächlich hat der letzte Ausbruch, bei dem sich die schwarze Lavainsel in zwei Brocken teilte, erst 1956 stattgefunden! Inzwischen werden die Touristen an der Spitze Santorins mit einer Seilbahn hinaufgebracht. Das hatten wir verpasst. In dem verlassenen Hafen war, als der ganze Bus- und Taxi-Rummel nach dem Anlegen des Dampfers wie ein Spuk verrauscht war, die Ruhe in der Dämmerung ein erstes Geschenk.
Bis „Adenauer“ kam! Genauer gesagt, war es der Hotel-Bus vom Hotel „Archea Eleusis Adenauer“ in Emborio, den der Wirt am Hafen für die zwei übrig gebliebenen Versprengten nochmals herunterbeordert hatte. Wir stellten keine Fragen mehr und überließen es dem Zufall (oder Schicksal?), wo wir landen würden, womöglich unter lauter Deutschen oder doch uralten Adenauer-Anhängern. Aber am nächsten Tag erklärte uns der Wirt, der selbst chauffierte, dass er vor vielen Jahren den alten Herrn aus Deutschland hier herumgefahren habe und in der Annahme, dass „Adenauer“ einem, zumal deutschen, Touristen wohl mehr bedeute oder doch mehr zu sagen habe als „Archea Eleusis“, hatte er den Namen des längst in den Himmel Abgewählten seiner Hotelbezeichnung hinzugefügt.
Einem Hotel im üblichen Sinne entsprach die Bleibe dann gottlob nicht– vielmehr war es eine kleine Privatpension mit einer runden, drallen „Mammi“ als Hausmutter und – wie sich herausstellte – hervorragenden Köchin. Und Menschen, die gut kochen und gern essen, verbreiten allemal eine Atmosphäre der Behaglichkeit und des sich Zuhausefühlens. So war es dann auch, weit weg vom Touristenrummel in den frequentierten Hauptorten von Santorin, in dem die Boutiquen und „chicen shops” eine geradezu lächerliche Verfremdung des noch immer kalkweißen, geduckten Baustils der Inseldörfer bewirken. Dort ähnelt Santorin oder Thira, wie es offiziell auf Griechisch heißt, eher Rüdesheim oder Travemünde und selbst der wirklich atemberaubend senkrecht zum Meer abfallende Kraterhang ist mit kunstvoll verzahnten Restaurants und Tavernen so verkleidet, dass man die Abgründe wohl nur noch als exotische Kulisse zur Kenntnis nimmt.
Anders Oia an der Nordspitze der Insel. Dieses beim letzten Erdbeben halb zerstörte Nest hat sich lange seinen Charakter bewahrt. Die schmale Inselstraße, die sich teilweise auf der Spitze des Bergkamms, streckenweise über die hier ebenfalls steil abfallenden Terrassen in endlosen Windungen herüberschlängelt, endet auf einer Art Dorfplatz, die anschließenden Gassen sind zu schmal für Autos geschweige denn für den Inselbus. Hier konnte man vor dem größten Touristenansturm noch durch stille, weiße Gassen schlendern mit schwindelerregenden Tiefblicken zum fast schwarz und unbeweglich im Krater-Rund liegenden Meer. Man meinte, allein zu sein in dieser rudimentären Einsamkeit, bis plötzlich Bratendüfte die Nase zu kitzeln begannen und – nachdem die Augen sich sattgesehen hatten – der Magen sich meldete. Er bekommt in einem Innenhof mit gemauerten Sitzbänken, auf denen Fleckerlteppiche liegen, den besten Schweinebraten, den wir je in diesem ganz dem Grill verschriebenen Land gegessen haben.
Der Himmel verfließt nach rosigen Schauspielwölkchen zu einem samtigen Blauviolett, bald sind Sterne über uns in einer Fülle und Strahlkraft, wie sie kein Städter je mehr zu sehen bekommt. Der Wind weht backofenwarm und knochentrocken ganz leise um die weißen Mauern, und später nimmt uns zum Glück der Wassertransportwagen wieder mit zurück in den Hauptort nach Thera.
In der Nacht, ins abgelegene Emborio zurückgekehrt, steigert sich der Backofenwind zum Wüstensturm, aber er bringt kaum Kühlung. Das Gutenachtbier schmeckt, eben erst aus dem Kühlschrank geholt, Minuten später wie lauwarme Limonade. Man liegt nackt auf dem Bett, vermeidet jede Bewegung, fühlt sich in einer anderen Welt—und auf einmal versteht man, dass die großen Religionen in solchen menschenfeindlichen, hitzedurchglühten Regionen entstanden sind, dass der ausgedörrte Körper, der genug damit zu tun hatte, am Leben zu bleiben, der vollauf beschäftigt war mit der bloßen Erhaltung seiner Existenz, den Geist entließ … ihn frei fliegen ließ in Gefilde, in denen ein Gott (oder eine Göttin?) ihn aufnahmen wie einen verirrten Vogel. Dieser, nun in sicherer Hut, sah wie von außen in einer Mischung aus Verachtung und Mitgefühl diesen Körper sich schinden, sah seine verzweifelten Anstrengungen, zu einem Ziel zu kommen, das doch kein Ziel sein konnte, höchstens eine Erholungsstation vor der nächsten Strapaze. Und fühlte sich überlegen und größer und stärker als diese armselige, ums Überleben kämpfende Kreatur.
Am Meer, wo die Wellen glasklar über tiefschwarzem Lavasand laufen, ist alle Philosophie vergessen. Man ist wieder ganz Leib, schwimmt und plätschert, lässt es durch die Finger gleiten, dieses grobgemahlene schwarze Kaffeepulver mit winzigen roten, grünen und sonstigen Kieseln dazwischen. Der Abend bringt, nach erschöpfter heißer Mittagsruhe hinter geschlossenen Jalousien, den Höhepunkt der wenigen Tage von Santorin: eine Fahrt auf den 556 Meter hohen Eliasberg mit Ausblicken auf zum Meer abfallende Felsen und kunstvoll angelegten Wein- und Gemüseterrassen – ein Ding so wunderlich wie das andere, denn wie kann in dieser regenlosen Wüste das Weinlaub grün bleiben, wie können winzige Tomaten in Steinlöchern knallrot reifen anstatt verdörrt vom Stil zu fallen.
Hoch droben steht die Radarstation (Fotografieren verboten) neben dem im 17. Jahrhundert erbauten Kloster, dem Monastoraki, wo uns helle Kühle und ein Raki aus der Klosterdestillerie mit einem eiskalten Glas Wasser erwarten. Ein finsterer Gang führt zur Klosterschule, die während der Türkenherrschaft geheim betrieben wurde, daneben eine kleine Druckerei mit Hebelpresse und Schneidemaschine. Auf dem Küchentisch steht Eingemachtes in großmütterlichen Einweckgläsern, sogar das tägliche Essgeschirr ist ausgestellt. Eine lebendige Lebensschule wäre dieses „Museum“ für unsere Kinder (und nicht nur sie), die sich ein Leben ohne Waschmaschine, Kühlschrank und Fernseher kaum mehr vorstellen können. Was für eine Fülle von verschütteten Lebensmöglichkeiten könnten sie hier sehen. In aller Frühe, noch vor den über den Steilhang in die Tiefe zuckenden Pfeilen von Helios, verlassen wir Santorin.
Eine Insel? Ein Wunder!