20. Jahrgang | Nummer 12 | 5. Juni 2017

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Ein Berliner Ibsen für den Broadway sowie ein Wiener Extrem-Mobbing in Berlin …

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In der kommenden Spielzeit 2017/18 wird Thomas Ostermeiers Inszenierung von Ibsens „Ein Volksfeind“ in einer englischen Adaption der Schaubühnen-Fassung in New York aufgeführt werden. Das Script schreibt der Dramatiker und Pulitzer-Preis-Finalist Branden Jacobs-Jenkins. Seit der Premiere beim Festival d’Avignon 2012 (Koproduktion mit Schaubühne Berlin) war das Ibsen-Stück bisher in 30 Städten weltweit zu Gast; unter anderem in Buenos Aires, Paris, Istanbul, Moskau, London, Seoul und Delhi. Und auch bereits (auf Deutsch) in New York, wo man, so Schaubühnenchef Ostermeier, „immerhin 80 Dollar für ein Ticket auf den Tisch legte“. Jetzt nach Amtsantritt von „Wissenschaftsverleugner Donald Trump“ habe das Stück, in dem wissenschaftliche Erkenntnis gegen Profitinteressen verliere, in vielen USA-Theatern Konjunktur. Deshalb demnächst die Berliner Stückfassung auch am Broadway, natürlich unter Regie von Thomas Ostermeier.
Hier in der Erinnerung ein Eindruck von der Berliner „Volksfeind“-Premiere im Herbst vor fünf Jahren. Inzwischen ist die Inszenierung längst ein Hit; immer ausverkauft. Und im deutschsprachigen Sprachraum ist sie die wohl überzeugendste „Vergegenwärtigung“ des großen Klassikers.

Quer im Loft der meterlange Tisch für Laptops, Macchiato, Baby-Wickeln. Und an den Wänden die Notizen über die voll cool alternativen Ideen vom letzten Brainstorming. So sieht’s aus bei aufsteigenden Jungakademikern wie den Stockmanns in hipper Großstadt-Mitte. Und wenn man mal nicht twittert, digital jobbt, Windeln wechselt oder salonrevolutionär rumphilosophiert, dann rockt man mit der Gitarre David Bowie. Die Selbstgefälligkeit einer so narzisstischen wie sinnsucherischen Schlabberhosen-Mittelstandsjugend breitet Regisseur Thomas Ostermeier grinsend aus in Henrik Ibsens altem Polit-Thriller von 1882 „Ein Volksfeind“. Was sich wie die routiniert ironische Fortschreibung der Edel-Egotrips in Ostermeiers Ibsen-Hits „Nora“ und „Hedda Gabler“ anlässt, kriegt in der finalen halben Stunde seinen drastischen Dreh: Stockmann, Badearzt einer profitablen Kur-Therme, hat entdeckt, dass die Wasserquelle vergiftet ist. Der Stadtrat will die ruinöse Verseuchung vertuschen. Es kommt zum großen Krach zwischen Politik (Ingo Hülsmann mit Schlips und Sakko) und Medizin (Stefan Stern in Lederjacke, Schlabberjeans). Der Clinch wird – schlagende Idee! ‑ überblendet mit dem aktuell im Netz kreisenden, aus Frankreich kommenden krass kapitalismuskritischen Empörungs-Manifest „Der kommende Aufstand“. Die Regie wirft brennende Fragen nach „Ökonomie und Wahrheit“ direkt ins Publikum, das so wütend wie ratlos mit Zwischenrufen reagiert. Was selten funktioniert: Hier kommt es zum wahrlich erregten, lautstarken Mitmach-Polit-Theater. Erhellende Aufregung im Saal!

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Wohl jeder kennt das nur zu gut: Man will das Beste, es kommt was dazwischen, die Sache läuft schief und schiefer und wird diversen Interessen entsprechend manipuliert, aufgebauscht, skandalisiert. Und alles zunächst gut Gemeinte verwandelt sich ins Gegenteil. Schließlich steht man nicht nur als Depp da, sondern als Versager. Oder Bösewicht oder gar als Verbrecher. Und alles durch übles Gerede, Geschreibe, Getwitter, durch Halbwahrheiten und Lügen. Eine intrigante gesellschaftliche Kommunikation macht so aus einem verehrten Unbescholtenen eine verdammte Unperson. ‑ Das geschah in Arthur Schnitzlers Anatomie einer Intrige (Schnitzler nennt sie sarkastisch „Komödie“) anno 1912 dem Wiener Klinikdirektor Bernhardi.
Der Fall „Professor Bernhardi“, diese geschliffen scharfe Großaufnahme einer Menschenhatz im K.u.K.-Österreich, sprachlich behutsam dem Heute angepasst, spielt in der Berliner Schaubühne unter Thomas Ostermeiers Regie selbstredend im Jetzt – ohne vordergründige Aufladungen mit Gegenwärtigkeiten. Und erzählt vom renommierten Chef einer Privatklinik, der einer sterbenskranken, durch Medikamente jedoch in Euphorie versetzten Patientin die letzte Ölung verweigert, um sie im Glauben an Gesundung in sanfter Entrückung friedvoll einschlafen zu lassen. Durch einen blöden Zufall kommt der bereits herbei gerufene Priester, dem Bernhardi den Zugang ans Krankenbett strikt verweigert, dennoch ans Sterbelager.
Diese humane, aus menschlichen Gründen zutiefst verständliche Verweigerung, tritt nun eine gefährlich anschwellende Lawine aus Missverständnissen, Verunglimpfungen, Verleumdungen, Verteufelungen los – auf dem Hintergrund von Bernhardis Religionszugehörigkeit: Er ist Jude. Das Motiv konkurrierender Kollegen ist, ihren Chef abzusägen. Die Anklage heißt: „Störung katholischer Religionsausübung“.
Das Team der Weißkittel prägen Neid, Karrieresucht, direkter oder indirekter Antisemitismus oder aber Angst, Feigheit, Blauäugigkeit. So entsteht quasi durch Rufmord bis hinein ins Gesundheitsministerium eine vermeintlich faktengestützte, in Wirklichkeit jedoch vom Faktischen nahezu gereinigte Realität, die Bernhardi den Job kostet, ihn am Ende sogar vor Gericht und ins Gefängnis bringt. Aber am Anfang dieser unheimlichen Dynamik nur durch eskalierendes Gerede (nebst entsprechend erpresster Kollektivbeschlüsse) stand ein antisemitisch und darüber hinaus politisch korrekt begründeter „Sündenfall“ wider die Kirche.
Schnitzlers Demonstration der Mechanik einer durchschaubar absichtsvollen, ins Kriminelle zielenden Kommunikation anno 1912 greift erschreckend prophetisch ins Heute. So nämlich kann das ‑ wenn wir nicht aufpassen – auch gegenwärtig funktionieren in unserem demokratisch-gesellschaftlichen, mithin politischen (noch dazu digital geprägten!) Betrieb.
Was für ein starkes Thema. Was für ein grandioses Zusammenspiel des Ensembles (15 Figuren). In diesem reinen Redestück entsteht alles wie aus dem Moment heraus – die fein gezügelte Rohheit, der elegante Sarkasmus, die banale Frechheit oder einfältige Feinfühligkeit. So keimt eine böse Stimmung, die unaufhaltsam ihren Sog entfesselt, der Vernunft und Mitmenschlichkeit verschlingt. Jörg Hartmann in der Titelrolle (vom TV-Kommissar wieder im Stammhaus) ist ein durch Herkunft, Leistung aber auch durch ein stur naives Vertrauen in die Kraft der Anständigkeit selbstbewusst bleibender Professor, der höchstens ob der ihm entgegenstürzenden Niedertracht erschrocken innehält, die er ansonsten aber – abgesehen von gelegentlich zynischen Einwürfen ‑ mit der ihm eigenen beruflichen Professionalität betont sachlich pariert; freilich mit einem Anflug von vornehmer Bitterkeit. Letztlich aber steht er seltsam gefasst über dem grässlichen Lauf der Dinge. Sebastian Schwarz als kaltschnäuzig karrieregeiler Haupt-Gegenspieler Dr. Ebenwald oder Christoph Gawender als schmieriger Ministerialrat sind nur zwei Beispiele aus dem Ensemble, dessen Figuren geradezu vibrieren in ihrer Anspannung, die dann eher implodiert als sich explosiv Bahn zu brechen. Überhaupt: Hier handeln, bei aller klischeehaften Aufladung, Figuren, deren Spieler Klischees unversehens wegzuspielen imstande sind.
Die atemberaubende Spannung dieser Inszenierung entsteht, vom grandiosen Ensemble einmal abgesehen, durch die Genauigkeit und Coolness, mit der die Regie unter Vermeidung jeglicher melodramatischer oder propagandistischer Einschläge (doch unter Einschluss grotesk-komischer Momente) die hanebüchenen Vorgänge aufblättert und in die Katastrophe dirigiert. Faszinierend diese Balance zwischen nüchtern gesellschaftspolitischer Analyse und psychologischer Skizze; zwischen Draufsicht und Innenansicht. Unter zivilisatorischer Routine das Zerstörerische wie Feuer unterm Eis ‑ die Bühne von Olaf Altmann zeigt einen blendend weißen, aseptischen Breitwand-Lichtraum.
Zu erleben ist das starke Stück eines politischen Menschentheaters, das im Politischen stets den Menschen sieht, den (in allen Zeiten) daran ein- und angebunden Einzelnen. Wie er schlau das Böse anzettelt, wie er das Gute verteidigt, wie er resigniert klein beigibt, wie wuchernder Opportunismus zum Schmiermittel wird auf der Bahn in den Abgrund. – Ganz große Regie- und Schauspielkunst! Zum Schluss mit einem Satz wie ein schwerer Schlag: „Wer dem Gewissen folgt, ist ein Rindvieh.“ Licht aus.