20. Jahrgang | Nummer 14 | 3. Juli 2017

Neo Rauch und Arno Rink in Aschersleben

von Wolfgang Brauer

Jahrzehntelang warb die Stadt mit dem Slogan „Das Tor zum Harz“. Aber wer macht schon am Tor Stopp, wenn er nicht gerade Zoll berappen muss? Und durch diese Stadt fuhr man früher möglichst rasch durch. Sie stank im Wechsel der Jahreszeiten nach Braunkohle, Gießereiabgasen oder Melasse. Richtung Harz verließ man sie über eine Straße, die sich sinnigerweise „Zollberg“ nennt.
Dreck und Gestank sind glücklicherweise vorbei. Fast jedenfalls. Denn wie alle deutschen Städte ohne Autobahnring erstickt sie tagtäglich im Dauerstau. Der Preis, den die Stadt für ihre ökologische Gesundung zahlen musste, war allerdings hoch: eine fast komplette Deindustrialisierung. Kluge Kommunalpolitik wiederum brachte das fast einmalige Kunststück zustande, diese wirtschaftlich an den Rand gedrückte Kommune, die noch dazu ihren Kreisstadtstatus abgeben musste und verwaltungstechnisch vom Harz abgekoppelt wurde – kundige Leute sagen, dass eine CDU-Provinzpolitikerin sich mit solchen Übungen das Bundestagsmandat organisierte –, zu einem besuchenswerten Juwel aufzupolieren.
Die Rede ist von Aschersleben, der ältesten Stadt Sachsen-Anhalts. Lokalmatadoren protzen immer noch mit dem vermeintlichen Ersterwähnungsjahr 753. Aber das ist Schwindel. Die Stadt ist dennoch alt, und sie ist schön auf eine liebenswerte Art.
Im Gefolge der Sanierung ihrer Industriebrachen – woanders borden an solchen Orten Getränke- und Möbelmärkte über – wurde die alte Stadt zu einem Kunststandort ersten Ranges. Verursacher ist Neo Rauch, allgemein anerkanntes Haupt der „Neuen Leipziger Schule“ – auch wenn sich über diesen Begriff trefflich streiten ließe. Zwischen Rauch und beispielsweise Michael Triegel liegen durchaus Welten.
Der 1960 geborene Neo Rauch wuchs in Aschersleben auf. Die Eltern kamen wenige Wochen nach seiner Geburt bei einem Eisenbahnunglück ums Leben. Aschersleben habe sich ihm „in den Jugendjahren nie voll erschlossen“. Heute findet er, es sei „eine hinreißende alte Stadt“, wie er im März 2017 in einem seiner seltenen Interviews dem Berliner Tagesspiegel erklärte. Mit Berlin hingegen werde er „einfach nicht warm“. Und er hängt an Leipzig.
Wer sich seinen Bildern nähert, kann sich den mit zumeist sehr fahlen Farbtönen eher flächig gehaltenen Landschaften nicht entziehen. Landesunkundige halten die auf eine sehr surreale Weise konstruiert. Das ist Unsinn, auch wenn Rauch die Hintergründe seiner Bilder aus sehr verschiedenen Versatzstücken montiert.
Das haben auch andere vor ihm getan. Um 1820 malte Caspar David Friedrich „Die Schwestern auf dem Söller am Hafen“ (St. Petersburg, Eremitage). Den Hintergrund des Hafenbildes dominieren die Marktkirche von Halle/Saale und der sich in deren Nachbarschaft befindliche Rote Turm. Schiffe können dort mitnichten anlegen.
„Sehen Sie, ich liebe die weitgespannten Himmel Mitteldeutschlands, die Rübenfelder, die sich über die Horizonte erstrecken“, teilte Rauch dem Tagesspiegel-Interviewer mit. Nun ist es weniger der den Horizont seiner Kindheitslandschaft bei klarer Sicht dominierende Brocken, der Neo Rauchs Bildsprache mitbestimmt. Es sind die zwischen Börde und Leipziger Tieflandsbucht immer noch unübersehbaren Relikte einer 200 Jahre alten Industrielandschaft: die Kali-Bergwerke, Brikettfabriken, mehr oder weniger verrottete Bahnanlagen, Wassertürme und ähnliche Symbole des eigentlich „Unschönen“. Manche schieben ihn wegen solcher Sujets, noch dazu wenn irre, jakobinerähnliche Gestalten mit Guillotinen in den Bildern auftauchen, gern in die intellektuelle Schmuddelecke der Neokonservativen. Auch das ist Unsinn. Frank Zöllner gab vor einigen Jahren in DIE ZEIT anlässlich einer Ausstellung von Arbeiten Rauchs im Baden-Badener Museum Frieder Burda den Tipp, man möge doch „mit dem Rad durch diese Welt beständiger Verfremdung“ fahren. Dann habe man die architektonischen und landschaftlichen Details vor Augen, die der Künstler „in sich aufgenommen und dann verfremdet in seine Bilder eingebaut“ habe. Das ist gut beobachtet, finde ich. Und Rauch bildet damit Verlusterfahrungen ab. Die sind nun wiederum gekoppelt, in den letzten Jahren zunehmend schier unlösbar gekoppelt, mit der sehr persönlichen Verlusterfahrung der Eltern, die immer wieder auf seinen Bildern in unterschiedlichster Gestalt auftauchen. Am eindrucksvollsten sicherlich auf dem großformatigen „Stellwerk II“ (2015, Öl auf Papier), das in Aschersleben zu sehen ist.
Dort präsentiert die „Grafikstiftung Neo Rauch“ – Rauch schenkte der Stadt je einen Druck seines grafischen Werkes – seit 2012 in wechselnder Folge Bilder des Künstlers, oft gekoppelt mit Arbeiten von Menschen, die ihm nahestanden oder -stehen. Im vergangenen Jahr ließ sich Rauch zu einer sehr persönlichen, für ihn wohl auch schmerzhaften Ausstellung überzeugen. Die Stiftung im dortigen Bestehornpark – auch eine ehemalige Industriebrache! – zeigte Papierarbeiten des 1960 gestorbenen Vaters Hanno Rauch gekoppelt mit Arbeiten des Sohnes. Wer sehenden Auges durch diese Exposition ging, der vorzügliche Katalog ist über die Ascherslebener Grafikstiftung noch erhältlich, erhielt durchaus einen Zugangsschlüssel für das Neo Rauchsche Werk.
Derzeit werden dort Arbeiten Arno Rinks den Bildern Rauchs gegenübergestellt. Der 20 Jahre ältere Rink war an der Leipziger Kunsthochschule nicht nur „prägender Lehrender, sondern [wurde] auch väterlicher Freund und Wegbegleiter“ (Kerstin Wahala, Kuratorin der Ausstellung und Vorsitzende des Vorstands der Grafikstiftung) des Künstlers. Gezeigt werden Arbeiten Rinks aus den Jahren 2011 (Atelier II, Öl auf Leinwand) bis 2016 (Klang, Öl auf Leinwand). Farblich sehr pastöse und stark abstrahierende Auseinandersetzungen mit dem Künstlertum und der Vergänglichkeit von Geschaffenem im Wissen um die unerhörten Lasten und Herausforderungen des Erbes der Vorgänger über die Jahrhunderte hinweg. Der Dialog mit dem Schüler gewinnt dadurch eine geradezu unerhörte Brisanz. Zumal Rauch in zwei Arbeiten aus dem Jahre 2017, der Lithographie „Das Lichtlein“ und dem mit Öl auf Papier gearbeiteten „Stammbaum“, neue Töne, auch farblicher Natur, anschlägt. Das lange Zeit dominierende Grün der Schlangenmenschen weicht einem aggressiven Rot. Eine Art Sancho Pansa erscheint mit Benzinkanistern. Die fortlaufenden Versuche, Verlusterfahrungen künstlerisch zu bewältigen, verbinden sich mit stärker werdenden Zukunftsängsten.
Ein unpolitischer Künstler, wie manche Interpretatoren meinen, ist das nicht. Seine Wahrheiten kommen aber eher leise daher, vordergründigen Deutungen verschließen sie sich. Wer glaubt, den Schlüssel zu dessen Bildern gefunden zu haben, wird mit diesem schon am nächsten Schloss der vielfach „gesicherten“ Bildfindungen scheitern und einen weiteren suchen müssen. Das gehört wohl zum Wesen großer Kunst. Sie macht Mühe beim Aneignen, Missverständnisse sind da unabdingbar.
Nicht in die Rubrik Missverständnis, eher in die Kiste gallenfarbener Bösartigkeiten gehört der Vorwurf, dass der Mann mit seinen Bildern Geld verdiene, sehr viel Geld sogar. Darf ein ostdeutscher Maler das überhaupt? Gehören die nicht allesamt in Sack und Asche oder nicht wenigstens in Verhältnisse wie Spitzwegs „Armer Poet“? Ich meine, die Perversitäten des zeitgenössischen Kunsthandels sollte man den Künstlern nicht vorwerfen. Auch Michelangelo, Rubens und Picasso waren zu Lebzeiten hochdotierte Leute – während die Mehrzahl ihrer Berufskollegen nicht wusste, wie sie die nächste Leinwand bezahlen sollte. Aber das ist ein anderes, ziemlich kunstfernes Thema.
Man muss Neo Rauchs Arbeiten nicht mögen, die Auseinandersetzung mit ihnen lohnt allemal. Den Weg nach Aschersleben sind sie wert – und nehmen Sie sich auch ein wenig Zeit für diese Stadt. Sie werden nicht enttäuscht sein.
Bis zu Feininger in Quedlinburg sind es dann übrigens nur noch 20 Minuten …

Arno Rink. Neo Rauch, Grafikstiftung Neo Rauch, 06449 Aschersleben, Wilhelmstraße 21-23; bis 29. April 2018.