20. Jahrgang | Nummer 12 | 5. Juni 2017

Arbeiten für eine Blackbox
– die Lebensbilanz des Werner Großmann*

von Alfons Markuske

Selbst in der kleinen DDR mit ihren beschränkten Möglichkeiten waren sich die Geheimdienste einander nicht grün, sondern schotteten sich eher voreinander ab, als dass sie kooperierten, wie aus Werner Großmanns Schilderung des Verhältnisses zwischen der Militäraufklärung der HVA (etwa 45 Mitarbeiter) und der NVA (an die 1000 Mitarbeiter) hervorgeht. Und: Die einen (NVA) wurden in die Arbeit des Nationalen Verteidigungsrates der DDR einbezogen, die anderen nicht.
Eigenartig war auch das generelle Verhältnis der Führung des Landes zur HVA. Deren Chefs, erst Markus Wolf, dann Großmann, hatten kein unmittelbares Vortragsrecht bei der politischen Spitze, also im Politbüro der SED oder gar bei Erich Honecker, nicht einmal bei den für ihre Arbeit relevanten Abteilungen im ZK der SED. Diese Kontakte liefen ausschließlich über Erich Mielke, den Stasi-Minister, persönlich. Mag das noch an dessen absolutistischer Amtsattitüde und seinem pathologischem Misstrauen gelegen haben, so sprechen Großmanns Ausführungen dennoch eine deutliche Sprache: „Ob das, was wir schriftlich formulierten und zur Weitergabe an Honecker dem Minister vorlegten, beim ersten Mann überhaupt ankam, erfuhren wir nie. Wir reichten unsere Informationen bei der ZAIG, der Zentralen Auswertungs- und Informationsgruppe, ein. Die zählte am Ende über 400 Mitarbeiter und unterstand dem Minister. Sie verfasste Informationen und schlug auch vor, an wen diese oder jene Information gehen sollte. Wir schlugen ebenfalls vor, wer unsere Informationen bekommen sollte, aber hatten keinen Einfluss darauf, wer sie bekam und ob unsere Vorschläge berücksichtigt wurden. Das war mitunter frustrierend, weil wir keinerlei Reaktionen auf unsere Arbeit erfuh­ren und auch nicht erlebten, dass mal eine Frage gestellt oder ein Kommentar abgegeben wurde. Wir arbeiteten quasi einer Blackbox zu.“
Dazu passt, dass die politische Führung die HVA in entscheidenden Momenten im Regen stehen ließ – etwa im Zusammenhang mit dem 13. August 1961. Die offene Grenze hatte eine gefahrlose, praktisch unkontrollierbare Kontaktierung und Führung von Agenten überall im Westen gestattet. Von der Grenzschließung erfuhr Markus Wolf im Urlaub, aus der Zeitung. Die Maßnahme traf die HVA also völlig unvorbereitet.
Ab 1977 hatte Großmann „auch die Gesamtverantwortung für die Kontakte zu Alexander Schalck-Golodkowski“, wie er bereits in seinem 2001 erschienenen Buch „Bonn im Blick“ vermerkte. „Wir nutzten einige Privatfirmen der Kommerziellen Koordinierung für unsere operative Arbeit.“ Andererseits, darauf verweist er im jetzigen Interview-Band mehrfach, machte die in seinem Metier geltende Konspiration auch um ihn als HVA-Chef keinen Bogen, sobald sein Aufgabengebiet nicht berührt war. Daher muss nicht unterstellt werden, dass Großmann von allem Kenntnis hatte, was KoKo trieb. Trotzdem ist ihm zu widersprechen, wenn er jetzt generalisierend behauptet, die DDR habe kein „Kriegsgerät in Krisengebiete“ geliefert. Während des irakisch-iranischen Krieges (1980–88) gingen militärisch einsetzbare Güter aus kommerziellen Gründen zeitweise sogar an beide Seiten.
Ziemlich ausführlich behandelt der Interview-Band Großmanns Biografie – von der Herkunft aus ärmlichen Verhältnissen über Kindheit und Jugend in Nazideutschland, die Nachkriegsjahre und die Anfänge der DDR bis zu seiner Rekrutierung für den Geheimdienst sowie seiner Karriere.
In der braunen Zeit war Großmann wie die meisten seines Jahrgangs erst bei den Pimpfen, dann bei der Hitlerjugend. Dort brachte er es zum Jungzugführer und sagt heute: „Bei mir funktionierte genau das, was die Nazis für unsere Generation geplant hatten: Gib ihnen Aufgaben, Funktionen, Herausforderungen, begeistere sie mit Abenteuer und Kampfsport – und mache sie reif für den Krieg.“ Am 1. März 1946 trat Großmann der KPD bei. Peter Böhm kommentiert: „Sollten alle aus der Menschheit austreten, die mal ein braunes Hemd getragen hatten? Es ging um den Bruch mit der Nazi-Ideologie. Entscheidend waren doch nicht die Gewandung und die Rituale, sondern das, was in den Köpfen stattfand.“ Damit beschreibt Böhm die gängige Praxis der neuen Machthaber erst in der SBZ, dann in der DDR, und schlägt um deren Fernwirkungen einen Bogen: Tatsächlich wurde allen Mitläufern und selbst Parteigängern der Nazis, überführte Verbrecher ausgenommen, letztlich jegliche tiefgehende Auseinandersetzung mit deren Ideologie und Praxis sowie ihrer eigenen Rolle im „Tausendjährigen Reich“ erspart – mit dem Ziel, die Anpassung möglichst vieler an die neuen gesellschaftlichen Gegebenheiten, besser noch ihr Engagement zu erreichen. Rächte sich das zum Beispiel am 17. Juni 1953? Brecht zumindest sah es augenscheinlich so, denn von ihm ist folgende Einschätzung auf einer Gewerkschaftsversammlung am 24. Juni 1953 im Berliner Ensemble überliefert: „Dieses Berlin ist in einem geistigen Zustande, in dem es anscheinend in der Nazi-Zeit war. Da sind noch ungeheure Rückstände geblieben. Es ist einer der Hauptfehler der SED – nach meiner Meinung – und der Regierung, daß sie diese Nazielemente in den Menschen und in den Gehirnen nicht wirklich beseitigt hat.“
Wer „Bonn im Blick“ nicht kennt, käme durch folgende Einlassungen Großmanns zur Ost-West-Entspannung mit einiger Sicherheit zu der Auffassung, dass bestimmte grundlegende politische Einsichten von einem „Überzeugungstäter“ wie Großmann nicht zu erwarten seien: „Wir machten uns keine Illusionen, dass sich mit der Entspannungspolitik der mit Gründung der Bundesrepublik postulierte Anspruch der ‚Befreiung des Ostens‘ erledigt hätte. Positiv war, dass die harte Konfrontation gemildert und eine von uns stets gewünschte und geforderte friedliche Koexistenz möglich schien. Dass dies ein Wunsch blieb und nicht Realität wurde, wissen wir nunmehr aus der Geschichte.“ Da hört man förmlich das Diktum des früheren DDR-Außenministers Otto Winzer von der „Konterrevolution auf Filzlatschen“, das manchen den Blick darauf verstellt, dass diese „Konterrevolution“ am Ende vor allem deswegen wie der Sieger dastand, weil die Mängel im gesellschaftlichen System des Ostens und die Reformunfähigkeit von dessen Partei- und Staatsführungen zur Implosion des real existierenden Sozialismus geführt hatten. Bei Großmann ist das aber nicht der Fall. In „Bonn im Blick“ hatte er im Hinblick auf die These vom extern initiierten und gesteuerten Zusammenbruch der DDR bündig formuliert: „[…] machen wir uns nichts vor: Der Beginn erfolgte in der DDR. Hier lief das Fass über. Hier brach der Unmut auf. Der Westen verstärkt nur, was hier geschieht …“
Großmann steht bis zum Ende loyal zur DDR, obwohl er in bestimmten Zusammenhängen eine ziemlich klare und ebenso apodiktische Sicht auf deren Obrigkeit hatte. Mancher wird sich daran erinnern, welcher Propagandarummel 1988 in der DDR getrieben wurde, als Erich Honecker vom Kombinat Carl Zeiss Jena der erste 1-Megabit-Chip überreicht und die DDR damit in die mikroelektronische Weltspitze katapultiert wurde. Die Blaupausen für den Prototyp – laut Großmann wurden drei Stück davon gefertigt: einer für den Generalsekretär, einer blieb in Jena, einen erhielt die HVA – stammten von den beiden einzigen damals darüber verfügenden Konzernen Toshiba und Siemens. Sie waren verdeckt beschafft worden. Das öffentliche Sich-Spreizen gefährdete daher die Quellen der HVA. Großmanns Urteil: „Das war keine Panne, sondern arroganter Größenwahn.“
So muss der ehemalige HVA-Chef sich schon fragen lassen, welches Licht seine uneingeschränkte Loyalität gegenüber dem DDR-System bis zu dessen kläglichem Ende auf ihn selbst wirft. Eine Frage, die sich auch der Autor dieser Rezension gestellt hat. Die Antwort fiel unschmeichelhaft aus.

***

Als am 17. Mai Werner Großmann sein Buch im Spionagemuseum zu Berlin vorstellte, meinte der Moderator der Veranstaltung, der Geheimdienst-Historiker Helmut Müller-Enbergs, im Saal überwiegend „Ehemalige“ zu erkennen.
Auf dem Podium saß auch der Jahrhundertspion (O-Ton Müller-Enbergs) Rainer Rupp (Deckname „Topas“ – siehe Teil I dieses Beitrages), der seinerseits ein Beleg dafür ist, dass Realität Fiktion allemal um Längen schlägt: Rupp konnte, wie er berichtete, dreieinhalb Jahre die Jagd nach ihm aus nächster Nähe verfolgen. Schon 1990 hatte ein Stasi-Überläufer den bundesdeutschen Organen den Decknamen einer Spitzenquelle der HVA geliefert, „Topas“, sowie Hinweise darauf, wo diese Quelle sitzen musste: im NATO-Hauptquartier nahe Brüssel. Dort wurde im Bereich Spionageabwehr eine Sonderkommission gebildet unter Leitung eines Rupp auch persönlich bekannten Amerikaners, der dem FBI angehörte. Rupp erfuhr davon durch die Sekretärin des Amerikaners, mit der er gut bekannt war. Von ihr wurde er fortlaufend darüber informiert, welche Schritte die Kommission gerade unternahm. Ihm selbst kamen diese Ermittler nie auf die Spur. Eine besonders skurrile Situation hatte Rupp gleich Anfang 1991 zu bestehen: Als der Name „Topas“ erstmals in der bundesdeutschen Presse auftauchte, kam der Amerikaner mit einem entsprechenden Beitrag zu ihm, um sich den übersetzen zu lassen. Zwei Jahre nach Beginn der intensiven Fahndung ebbten die Aktivitäten der Kommission merklich ab.
Das Schicksal ereilte Rupp schließlich von anderer Seite: Die CIA gelangte, mutmaßlich Anfang 1993 und mutmaßlich durch einen Verräter aus den Reihen der HVA (so Werner Großmann bei der Präsentation seines Buches), in den Besitz der mikroverfilmten operativen Registraturen F 16, F 22 und F 77 der HVA (bekannter als „Rosenholz“-Karteien), die alle wichtigen Stasi-Agenten, Kuriere und Ausgespähten mit deren Klarnamen auswiesen. Am 31. Juli 1993 wurde Rainer Rupp verhaftet.

Peter Böhm: Werner Großmann. Der Überzeugungstäter, edition ost im Verlag Das Neue Berlin, Berlin 2017, 256 Seiten, 16,99 Euro.

* – Teil I dieses Beitrages, „Im Felde ungeschlagen … – die Lebensbilanz des Werner Großmann“, ist im Blättchen 11/2017 erschienen.