20. Jahrgang | Nummer 12 | 5. Juni 2017

Alles Hertha, oder was?

von Dieter Naumann

Die Herthaburg auf der rügenschen Halbinsel Jasmund soll zeitweiliger Wohnsitz der den Menschen wohlgesinnten Göttin Hertha gewesen sein, die die Mühen der Bauern mit reichen Früchten belohnte. Fuhr die Göttin zur Erntezeit mit ihrem mit Kühen bespannten Wagen durchs Land, jubelten ihr deshalb die Menschen freudig zu. Bei aller Freude – auch eine solche Reise strengt an, und die Göttin nahm im nahe gelegenen Waldsee gern ein erfrischendes Bad. Derweil wuschen die Diener den Wagen und leisteten auch Hilfestellungen bei den geheimen kultischen Fruchtbarkeitsriten. Damit die heiligen Zeremonien aber nicht ausgeplaudert werden konnten, wurden die dienstbaren Geister kurzerhand ertränkt. Das ist auch der Grund, weshalb bisher noch niemand die sagenhafte Schönheit der Göttin bestätigen konnte. Karl Nernst (1775–1818) beschrieb in seinen „Wanderungen durch Rügen” immerhin, wie man sich die Hertha einst vorstellte, nämlich „als eine ehrwürdige Matrone, mit einer vollen gewölbten Brust. In den Händen hielte sie einen Scepter und einen Schlüssel, die Insignien der Oberherrlichkeit; das Haupt schmückte eine hohe thurmreiche Burg, und die Hüften herab wallte ein langes weites Gewand mit tausend Blumen und Gewächsen übersäet.“
Der Danziger Geograf Philipp Clüver (1580–1622) hatte im dritten Band seiner „Germania antiqua libri“ (1616 im holländischen Leiden erschienen) die Legende des Herthakultes auf Rügen verortet und dabei auch die bis heute umstrittene Ableitung von der germanischen Göttin der Erde und der Fruchtbarkeit „Nerthus“ (um 96 unserer Zeit von Publius Cornelius Tacitus in seiner „Germania“ beschrieben) übernommen. Selbst Rügen-Kenner wie Ernst Heinrich Wackenroder (1660–1734) oder der Greifswalder Universitätsprofessor Albert Georg Schwartz (1687–1755) hegten keine Zweifel an der geografischen Kultzuordnung. Akademiemitglied Johann Friedrich Zöllner (1753–1804) war sich hinsichtlich der regionalen Zuordnung des „Hertha-Kultes“ 1795 zwar unsicher, schlussfolgerte aber: „Wenn man… beides, teils die Lage, welche Tacitus den sieben Völkerstämmen (die Hertha verehren – D.N.) anweiset, teils die Nachricht, daß der Herthadienst auf einer Insel im Ozean gewesen sei, mit einander verbindet: so würde man auf Rügen raten müssen, selbst wenn sich hier nach siebenzehnhundert Jahren gar kein Ort mehr fände, den man in jener Nachricht zu erkennen glaubte.“ Erst im 19. Jahrhundert wurden zaghafte Bedenken geäußert. So meinte der Neubrandenburger Naturforscher Ernst Friedrich August Boll (1817–1868), die Sagen dienten nur „zum Nutzen und Frommen der Touristen, denen auf ihren Ausflügen des Pikanten nie zu viel dargeboten werden kann“.
Ungeachtet aller Kritik schrieb ein Dr. Hans Engel im Kapitel „Die Kunst auf Rügen” im 1925 (!) erschienenen Büchlein „Die Insel Rügen”: „Die beste Quelle (für die Zeit vor 1168 – D.N.) ist uns noch Tacitus, der von den eigenartigen heidnischen Sitten und dem grausamen Dienste, den die Einwohner Rügens der Göttin Hertha verrichteten, viel zu erzählen weiß.”
Der Herthasee mache „mit seinen von hohen Bäumen und weit überhängenden Zweigen beschatteten Ufern, dem regungslosen, schwarz erscheinenden und mit Wasserrosen vielfach bedeckten Wasserspiegel einen geheimnisvollen Eindruck…, der noch erhöht wird, wenn der Mond die einsame Strecke mit seinem zauberhaften Lichte bestrahlt“, schreibt der Reiseführer von Schuster 1913–1914. Seine dunkle Färbung, die ihm früher den Namen „Schwarzer See“ einbrachte, erhält der See durch den moorigen Untergrund. „Wohl an wenigen Orten mag man den Eindruck einer ernsten, schweigsamen Waldesnatur auf die Gemütsstimmung in solcher Weise fühlen als am Herthasee“, schrieb der Reiseführer von Richter 1914. Wegen der nahen Tempelburg wurde der See auch Burgsee, Bergsee oder (Großer) Borgsee genannt. Den wenig prosaischen Ursprung bildete ein gewaltiger, von einem Gletscher zurückgelassener Eisblock, der später abschmolz und die durch nachrutschenden Boden gebildete Senke mit Wasser füllte. Früher war es möglich, auf dem See Kahn zu fahren, was besonders an schönen Abenden empfohlen wurde. Teilweise übertrieben kolorierte Ansichtskarten zeigen am Ufer lustwandelnde Herren und Damen, letztere natürlich mit dem unvermeidlichen Sonnenschirmchen. Einige Zeit lang wurde der See auch befischt, die Fische wiesen jedoch einen moorigen Geschmack auf. Der Sage nach soll der See, in dem einst Hertha badete, jeden verschlingen, der sich mit dem Wasser benetzt und dadurch den See entweiht. Also Vorsicht, man weiß ja nie, ob nicht doch etwas Wahres daran ist…
Bei der Herthaburg handelt es sich um einen in Resten noch erkennbaren slawischen Burgwall, in dessen Innerem dem mit silbernem Bart versehenen Siegesgott Zarnebuck, Tjarnagloti oder Tjarnaglof (der Schwarzköpfige) gehuldigt worden sein soll. Der Wall wurde frühestens um 1130 errichtet und vermutlich 1171 oder früher durch einen Brand zerstört. Die schwedischen Landvermesser wollten hier 1695 Reste von einem befestigten Haus gesehen haben. Zöllner vermerkte dagegen 1795 nur herumliegende Steine, keinerlei Anzeichen für ein Gebäude. Auch spätere archäologische Untersuchungen ergaben keine entsprechenden Hinweise.
Nicht mehr zu sehen ist die Herthabuche, aus deren Rauschen der Priester den Willen und die Zukunftsprophezeiungen der Göttin heraushörte. Der Reiseführer von Richter von 1929–1930 weiß zu berichten, dass die Herthabuche schon um 1850 im Absterben begriffen war, „doch wurde sie auf Anregung des Königs Friedrich Wilhelm IV. besonders gepflegt, so daß der Baum jetzt einer der schönsten und imposantesten der ganzen Stubbnitz ist. Leider haben die Stürme des letzten Winters fast ein Drittel der Äste abgebrochen, so daß ihr weiterer Bestand ernsthaft gefährdet ist“. Eine Zeitlang war der Baum zu seinem Schutz mit einem Drahtzaun umgeben. Ansichtskarten zeigen die Buche, teils mit Personen am Stamm, aber auch im Geäst. Heute ist nur noch ein ausgehöhlter Stumpf Totholz zu sehen, den man als Überrest der Herthabuche annimmt.
Für Hoteliers, Pensionsbesitzer und erst recht für die Touristen war es egal, dass die etwa im 18. Jahrhundert eingeführten Begriffe Herthasee, -burg- und -buche „eigentlich” auf einer unwissenschaftlichen Fehldeutung beruhten. Für einheimische Schuljungen war die Herthasage lange Zeit ein recht einträgliches Geschäft. Für 10 Pfennige erzählten sie den gutgläubigen Touristen gern die Sage. Der geschäftstüchtige Gastwirt Behrend des Gasthauses Stubbenkammer tat noch ein Übriges: Er ließ zur Belebung des Tourismus einen kleinen Findling als „Opferstein”, auf dem Hertha angeblich Menschenopfer dargebracht wurden, an die sagenhafte Stelle bringen. Über eine Blutrinne sei das Blut der Opfer in einen anderen Stein, eine ehemalige Trogmühle, geflossen. Lange Zeit nahmen zeitgenössische Reiseführer die Geschichte für bare Münze.
Hertha musste auch für eine 1903 nahe Rosengarten entdeckte stark kohlensaure Quelle herhalten. Der Abfüllbetrieb „Reichsfreiherrliche Maltzansche Herthaquelle“ verkaufte den „Hertha-Sprudel“ bald bis Berlin und sogar nach Südafrika, Las Palmas, Schanghai und den Molukken. Im Ersten Weltkrieg gelang es dem Sprudel-Fabrikanten, seine Limonade als Heereslieferung abzusetzen. Die heilkräftige Wirkung des „Hertha-Sprudels” stellte sich später allerdings als Schwindel heraus.
Ein anderes Produkt hatte keine lange Überlebenszeit: Der Steinmetz- und Bildhauermeister Oswald Seifert aus Bergen warb im Annoncenteil des „Heimat-Kalenders 1908 für den Kreis Rügen“ für Fußböden aus dem Kunstholz „Hertha Stabil“.
Wesentlich banaler ist der Ursprung des Namens von Hertha BSC: Fritz Lindner, einer der vier Gründer, hatte mit seinem Vater eine Fahrt auf dem Dampfer „Hertha” unternommen. Name und Reedereifarben wurden kurzerhand für den 1892 gegründeten Berliner Verein übernommen.