20. Jahrgang | Nummer 12 | 5. Juni 2017

„Fangt den Schiro!“

von Thomas Parschik

Kinder spielen gern Räuber und Gendarm. Im April 1942 konnten sie das in Deutschland in staatlichem Auftrag tun. Ein, wie es hieß, gefährlicher Kriegsgefangener war von der Festung Königstein geflohen. Die Reichsführung setzte 100.000 Reichsmark Belohnung für seine Ergreifung aus und Heinrich Himmler befahl der Gestapo, ihn um jeden Preis zu töten. Der Flüchtling hieß Henri Honoré Giraud, General der französischen Armee. Der 1871 Geborene hatte bereits Fluchterfahrung, denn auch im Ersten Weltkrieg war er aus deutscher Kriegsgefangenschaft entkommen. Am 19. Mai 1940 war er als Kommandierender der 9. französischen Armee bei dem Versuch, den deutschen Durchbruch in den Ardennen aufzuhalten, in Gefangenschaft geraten.
Auf der Festung Königstein in Sachsen waren etwa 90 kriegsgefangene französische Generäle und im Verlauf des Krieges weitere hochrangige polnische, britische, US-amerikanische und niederländische Militärs in Haft. Sie lebten dort unter recht komfortablen Bedingungen. Giraud erhielt regelmäßig Lebensmittelpakete von seiner Frau. Die Bindfäden flocht er zu einem etwa 50 Meter langen Seil zusammen und band einen Kupferdraht ein, der ebenfalls aus einem Paket seiner Frau stammte. In der Gefangenschaft hatte er akzentfrei Deutsch gelernt, sich einen Tirolerhut und eine schwarze Hornbrille verschafft. In seiner Unterkunft ließ er einen Zettel mit folgendem Text zurück: „Weg durch die Schweiz ist unerlässlich. Weg nach Schaffhausen ab Bahnhof Tuttlingen über Emmingen-Singen. Singen – Straße nach Schaffhausen“. Der Zettel wurde später gefunden und hatte eine verstärkte Suche in den genannten Bereichen zur Folge.
Am Morgen des 17. April 1942 seilte sich Giraud ab. Erst gegen 20 Uhr wurde seine Flucht bemerkt. Auf dem Bahnhof Bad Schandau traf Giraud einen SOE-Kontaktmann, einen Deutsch sprechenden Elsässer, von dem er einen Koffer und einen zivilen Anzug erhielt. Die SOE (Special Operation Executive) war eine Spezialeinheit des britischen Geheimdienstes zur subversiven Kriegführung in Deutschland und den von den Nazis besetzten Gebieten. Mit dem Zug fuhren der General und der SOE-Agent in verschiedenen Abteilen nach Stuttgart. Auf dem Stuttgarter Hauptbahnhof konnte Giraud einen Zivilisten abschütteln, der ihn beobachtete. Mit einem Zug, in dem viele Wehrmachtssoldaten auf Urlaub unterwegs waren, fuhren der Gesuchte und sein Helfer zunächst nach Landau, weiter über Straßburg und Schlettstadt nach Mühlhausen.
An der Fahndung waren SS, SD, Gestapo und Kriminalpolizei, die Schutzpolizei, das Nationalsozialistische Kraftverkehrswerk, die Wehrmacht und die Feuerwehr beteiligt. Auch die Hitlerjugend und das Jungvolk wurden mobilisiert. Ein ehemaliger Hitlerjunge erinnerte sich: „Wir wollten ihn gemeinsam zu Fuß anfallen, Adalbert sein Gewehr, ich meinen ‚Speer’ im Anschlag. Wenn er sich unserer ‚Übermacht’ ergab und willig zur Gendarmerie oder Polizei folgte, war alles gewonnen. Welch ein Triumph würde es dann für uns sein, und welchen Neid würden wir bei den Kameraden erregen! An die 100.000 Reichsmark des Führers dachten wir nicht. […] Wenn aber der General nicht willens war, uns wieder in die Kriegsgefangenschaft zu folgen, wollte Adalbert ihn so lange aufhalten, bis ich aus Herbolzheim oder Oberhausen Verstärkung herangeholt hatte. […] Auch wenn ich gewaltig in die Pedale trat – und als Radfahrer war ich trainiert – würde es eine halbe Stunde dauern, bis die Gendarmerie oder Polizei dort eintreffen konnte. In dieser Zeit stand Adalbert dem General allein gegenüber und hatte außer seinem ungeladenen Gewehr nur noch ein Fahrtenmesser einzusetzen. […] Was aber, wenn Henry Honoré mit einer Pistole bewaffnet war und – anders als der Gewehrträger Adalbert – dafür auch Munition hatte? Später gestanden wir uns gegenseitig, daß jeder an diese Möglichkeit zwar dachte, aber schwieg, um ja keine Angst aufkommen zu lassen.“
Zahlreiche Zeugen meldeten, den Flüchtigen an verschiedenen Orten oder in einem Auto gesehen zu haben, auch dann noch, als sich der Gesuchte bereits in der Schweiz oder in Frankreich befand. Giraud erreichte von Mühlhausen aus per PKW das Städtchen Tann im Elsass. Hier überschritt er als Heinrich Greiner, aus dem Elsass stammender Handelsvertreter, am 22. April mit der Hilfe eines Pfarrers und eines Försters die Schweizer Grenze und stellte sich den Behörden. Eine Nacht verbrachte Giraud im Gefängnis von Porrentruy. Am Folgetag musste er wegen illegalen Grenzübertritts 10 Schweizer Franken Strafe zahlen. Der Chef des Schweizer Geheimdienstes, Roger Masson, führte in Bern ein Gespräch mit dem General und veranlasste dann seine Weiterreise ins unbesetzte Vichy-Frankreich. Am 30. April stellte das Deutsche Reich die Fahndung nach Giraud ein.
Im April 1945 wurden in Wolfach 20 französische Zivilgefangene von der SS erschossen. Unter den Opfern waren zwei Männer, die dem General auf der Flucht geholfen hatten: der Pfarrer Joseph Stamm und der Hotelier Réné Ortlieb.
Giraud bot dem Präsidenten Marschall Philippe Petain seine Dienste an. Das mit den Nazis kollaborierende Oberhaupt des „État Français“ war indes nicht glücklich über die gelungene Flucht und versuchte, Giraud zur freiwilligen Rückkehr nach Deutschland zu bewegen. Am 5. November 1942 brachte das britische U-Boot HMS „Seraph“ Giraud nach Gibraltar und rettete ihn damit vor der drohenden Auslieferung.
Giraud beanspruchte das Oberkommando der an der Operation Torch, der geplanten Invasion der Alliierten in Nordafrika, beteiligten französischen Kontingente. Es gab aber einen populären Widersacher: General Charles de Gaulle. Er war nach der französischen Niederlage nach London geflohen und hatte in seinem Appell vom 18. Juni 1940 zum Widerstand aufgerufen „Was auch immer geschehen mag, die Flamme des französischen Widerstandes darf nicht erlöschen und wird auch nicht erlöschen“. Giraud dagegen sympathisierte mit Petain und unterhielt Kontakte zum Vichy-Geheimdienst. Die Kontrahenten trafen im Januar 1943 bei der Konferenz von Casablanca mit Franklin D. Roosevelt und Winston Churchill zusammen. Es war de Gaulle, der schließlich den Machtkampf für sich entschied und Giraud zum Rücktritt zwang. Er zog am 25. August 1944 als Befreier in Paris ein. Von 1959 bis 1969 war er der erste Präsident der fünften Republik. Die spektakuläre Flucht des Generals Giraud wurde zu einer Fußnote der Geschichte.