20. Jahrgang | Nummer 10 | 8. Mai 2017

Bemerkungen

Manches war doch anders:
Dass das westdeutsche Wirtschaftswunder …

… dank Marshall-Plan, komplettem Reparations- und erklecklichem Schuldenerlass sehr viel weniger zum Wundern war, als der Gründungsmythos der Bundesrepublik bis heute gern weis machen will, ist längst kein Geheimnis mehr.
Dass noch etwas anderes hinzukam, konnte man im Handelsblatt in einem „8. MAI 1945 – Mythos und Wirklichkeit“ betitelten Beitrag nachlesen, und zwar bereits 2015 sowie passenderweise am 8. Mai.
Autor Michael Brackmann konfrontierte langjährig vorherrschende Auffassungen mit der Realität: „Nach den heftigen Luftangriffen der vergangenen Jahre, so dachte man, liegt unter den Trümmern der Großstädte auch der Kapitalstock der Industrie begrabenzerstörte Fabrikanlagen, kaputte Maschinen, unbrauchbares Werkzeug. Im November 1945 urteilten deutsche Finanzexperten, der Produktionsapparat sei ‚nahezu auf die Anfangszeiten der Industrialisierung Deutschlands zurückgeworfen‘. […] Aber so wenig es im Justizapparat, in der Ärzteschaft oder der Volkswirtschaftslehre eine Stunde null gab, so wenig gab es eine solche Zäsur auch in der Wirtschaft. […] Nicht Zäsur, sondern Kontinuität entspricht der historischen Wirklichkeit. Zu Recht bilanziert der Historiker Werner Abelshauser, dass die Substanz des industriellen Anlagevermögens im Mai 1945 ‚keineswegs entscheidend getroffen‘ war. ‚Bezogen auf das Vorkriegsjahr 1936 war das Brutto-Anlagevermögen der Industrie sogar um rund 20 Prozent angewachsen.‘“
Auch zu den maßgeblichen Gründen dafür machte Brackmann konkrete Ausführungen: „Zum einen hatte der Luftkrieg die Wirtschaft kaum getroffen. Auf die Zivilbevölkerung und das Verkehrssystem fielen jeweils siebenmal mehr Bomben als auf die Großindustrie. 1943 hatten die Alliierten in der ‚Operation Double Strike‘ erfahren, wie erbittert deutsche Luftabwehr und Luftwaffe kriegswichtige Industrien verteidigten: Die Angriffe der US-Airforce auf das Kugellagerwerk in Schweinfurt endeten für die Amerikaner so verlustreich wie nie wieder im Zweiten Weltkrieg. Deutsche Flugabwehr und deutsche Kampfpiloten schossen rund 100 US-Bomber ab. Die Produktion von Kugellagern in Schweinfurt jedoch ging nur vorübergehend zurück, der Produktionsausfall der Kriegswirtschaft tendierte gegen null. […] Selbst 1944, auf dem Höhepunkt der alliierten Luftoffensive, wurden nicht mehr als 6,5 Prozent aller Maschinen beschädigt. In der Stahlindustrie zerstörten alliierte Bomber lediglich ein paar Hochöfen, ein einziges Walzwerk fiel total aus. US-Wirtschaftsberater erklärten im Mai 1945, die Zechen an der Ruhr könnten in wenigen Monaten wieder voll produzieren. Zum anderen hatte Deutschland zwischen 1935 und 1943 einen beispiellosen Investitionsboom erlebt. Im Windschatten der Rüstungskonjunktur, resümiert Abelshauser, erreichte der ‚Gütegrad‘ der deutschen Industrieanlagen ‚am Ende des Zweiten Weltkriegs seinen höchsten Stand seit dem Ersten Weltkrieg‘. Weite Teile der deutschen Industrie, vor allem der Maschinenbau, die Elektrotechnik und die chemische Industrie, verfügten beim Untergang des NS-Regimes über die weltweit fortschrittlichsten Anlagen, Maschinen und Werkzeuge. Keine Spur also von einer Stunde null, keine Spur von einem Neuanfang.“

Alfons Markuske

Von den Gärten

„In den kleinsten Dingen
zeigt die Natur die allergrößten Wunder.“
Carl von Linné

Der Garten ist seit jeher eine Welt der fünf Sinne. Düfte erfreuen und Farben; Vogelgesang ist zu hören. Die Blätter des Wollziest darf man berühren und ihre samtweiche Beschaffenheit spüren. Wer seinen Geschmackssinn prüfen möchte, der vergehe sich an Kapuzinerkresse, Rosen und Hornveilchen. Ein Stück Garten anzulegen gleicht stets einem persönlichen Schöpfungsakt, ist der achte Tag nach der Erschaffung der Welt. Nach eigenem Gusto darf jeder, sofern er ein Plätzchen dafür hat, darin schalten und walten. Darf Ideen entwickeln und sie umsetzen – oder verwerfen. Man wird pflanzen und dem Ergebnis entgegenfiebern, gleichgültig ob es die erste Blüte der Damaszener-Rose „Madame Hardy“ ist oder der wuchsfreudige Sellerie.
Im Garten regiert die Vielfalt der Genüsse. Ruhe, Gelöstheit und Entspannung erwarten, Geselligkeiten. Und besondere Gartenfreuden passionierter Pflanzensammler, wenn die langersehnte, gepäppelte, kostbare, stark duftende, durch mehrfachen Zuspruch angespornte Strauchpäonien-Hybride „Chinese Dragon“ endlich Knospen angesetzt hat. – Oder einfach nur auf der Bank sitzen, sein Lieblingsbuch bei sich und den neuen Gartenkatalog. In diesem Falle ist Marcus Tullius Cicero beizupflichten: „Hast du einen Garten und eine Bibliothek, dann hast du alles, was du brauchst.“

Renate Hoffmann

Der Text entstammt dem dieser Tage erschienen Buch der Autorin: Es flüstern und sprechen die Blumen. Spaziergänge durch die Gärten der Welt, Das Neue Berlin, Berlin 2017, 160 Seiten, 12,99 Euro.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Verlages.

Hat nicht ein Jude Augen?

Schon lange eine Tradition: Im Frühjahr bietet die Berliner Theatergruppe „Reißverschluss“ eine neue moderne Inszenierung des elisabethanischen Theaters, meist von Shakespeare. In diesem Jahr hat sich der künstlerische Leiter Joachim Stargard eine schwere Aufgabe gestellt. „Der Kaufmann von Venedig“ ist eins der umstrittensten Stücke des Autors, weil es allzu oft antisemitisch interpretiert wurde (und es den Missverstehern auch leicht macht).
Vom jüdischen Geldverleiher Shylock erhält der junge venezianische Kaufmann Bassanio die stattliche Summe von 3000 Dukaten. Bei nicht fristgerechter Rückzahlung soll die Schuld durch dessen Bürgen Antonio mit einem Pfund Fleisch des eigenen Körpers beglichen werden.
Auch wenn Stargards eigene, nur neunzigminütige Fassung sehr gerafft wirkt, werden die wichtigen, auch heute aktuellen Motive doch deutlich. Internationale Transaktionen sind vor allem riskant, wenn Arroganz und Elitedenken hinzukommen. Fremdenhass, Ausgrenzung auf der einen und hasserfülltes Beharren auf Recht und Gesetz auf der anderen Seite verstoßen gegen die allgemeine Moral.
Traditionell arbeitet Stargard mit jungen Schauspielern und Laien – so auch hier. Den titelgebenden Kaufmann spielt Martin Hamann, der schon im vorjährigen Shakespeare positiv auffiel. Sein Schnösel Antonio hatte Shylock stets gedemütigt und wird nun von dem Verachteten auf den Boden der Tatsachen zurückgebracht. Hamann hat seine besten Szenen zusammen mit Shylock, den Martin Klotz spielt. Anfangs irritiert, dass ein so junger Darsteller den Alten spielt, aber im Spiel, gerade auch im berühmten Monolog „Hat nicht ein Jude Augen?“ kann er überzeugen. Souverän ist auch Isabella Enzenhofer, die die reiche Erbin Porzia mit all ihren Zweifeln glaubhaft ausstellt.

Insgesamt wieder ein phantasiereicher, auch komödiantischer Abend voller überraschender, differenzierter Einsichten, dem zu wünschen wäre, dass besonders viele junge Leute ihn sehen.

Frank Burkhard

Nächste Vorstellungen: 11.-13.5., 20:00 Uhr (Theaterforum Berlin-Kreuzberg), 12.6. 20:00 Uhr, 13.6. 10.30 Uhr (Gallus-Theater Frankfurt am Main).

Eine musikalische Weltreise mit Blechbläsern

Blechblasmusik und Bayern sind ja nicht nur alliterarisch gesehen eine feste Verbindung.
Doch wer sich bei LaBrassBanda auf volkstümliches Liedgut einstellt, wird angenehm (oder unangenehm) enttäuscht.
Denn diese sieben Blechbläser sind seit 2007 eifrig dabei, aus ihren Blechblasinstrumenten einen neuen und ungewohnten Sound zu entlocken. Was zunächst die musikalischen Traditionshüter in Bayern bis ins Mark erschütterte, erfasste spätestens 2013 beim deutschen Vorentscheid zum European Songcontest den Rest der Republik. In über 1000 Konzerten übertrug sich die Begeisterung auf das Publikum.
Zum 10-jährigen Bandjubiläum präsentieren sie ein energiereiches neues Album. Sie kreieren keinen eigenen Musikstil, aber ein Reggae-Lied würde man wohl nicht unbedingt von Blechbläsern erwarten.
Und es gibt ein angejazztes Liebeslied mit Didgeridoo-Fundament genauso wie Lieder mit Soul-, Hiphop- oder Punktönen.
Und wer nicht nur mitwippen oder mittanzen, sondern auch mitsingen mag: Im beigefügten Booklet können die Texte in bayerischer Mundart nachgelesen werden.
Und bei allen Spaßelementen, den die barfüßigen Blechbläser in Lederhosen und T-Shirts zelebrieren: Sie spielen Blasmusik auf höchstem Niveau!

Thomas Rüger

LaBrassBanda: Around the World“, RCA Label, ca. 15 Euro.

Eine Bomben-Geschäftsidee?!

Der Wonnemonat Mai ist schlechthin der Hochzeitsmonat. Kein anderer Monat bietet so viel Raum für Gefühle und Romantik. Laut Statistischem Bundesamt geben sich im Mai ungefähr 50 Prozent mehr Paare das Ja-Wort als in den restlichen Monaten.
Im Mai wird aber nicht nur geheiratet, neben dem April haben jetzt auch Konfirmation, Firmung und Jugendweihe Hochkonjunktur.
Seit einigen Jahren gibt es nun –  – vorrangig in Ostdeutschland – ein neues festliches Ritual, um den Übergang ins Erwachsenalter feierlich zu gestalten: die Lebenswendefeier. Sie ist ein kirchliches Angebot für nichtchristliche Jugendliche, die eine Alternative zur Jugendweihe suchen.
Ins Leben gerufen wurde das Projekt 1998 vom damaligen Erfurter Dompfarrer und jetzigen Weihbischof Reinhard Hauke. Die katholische Kirche hatte gewissermaßen eine „Marktlücke“ entdeckt und eine neue Jugendfeier für junge Menschen ohne Religionszugehörigkeit entwickelt. Eine kirchliche Feier ohne Gottesdienst, bei der das humanistisch-christliche Fundament im Vordergrund steht. Dabei haben sich die Organisatoren so manches Detail von der Jugendweihetradition abgeguckt. Im Osten machte das Erfurter Modell schnell Schule und die Teilnehmerzahlen stiegen von Jahr zu Jahr. Inzwischen wurde das von der katholischen Kirche konzipierte Angebot auch von der evangelischen Kirche übernommen. Besonders in den ostdeutschen Städten ist der Ansturm auf die Lebenswendefeier groß und erfreut sich vor allem unter den Gymnasiasten eines regen Zuspruchs. So nahmen in Halle an der Saale im Vorjahr rund 600 Jugendliche an dieser Form einer „christlich geprägten Jugendweihe“ teil. Vor knapp zwanzig Jahren konnte niemand ahnen, dass dieses neue Modell so stark angenommen wird. Allerdings blieb der kirchlicherseits sicher erhoffte Folgeschritt zur späteren Taufe in den meisten Fällen aus.
Während also die verschiedenen kirchlichen Institutionen (unter anderem auch Caritas und Diakonie) längst auf diesen Lebenswendefeier-Zug aufgesprungen sind, hat der Handel die Sache zum Teil verschlafen. Nein, nicht die Textilbranche – die macht ihr Geschäft mit der passenden Jugendmode für den feierlichen Anlass. Aber der Schreibwarenhandel hat den Trend der Zeit einfach nicht mitbekommen. Obwohl die Lebenswendefeier im Osten seit Jahren fest etabliert ist, sucht man in den Kartenständern von McPaper & Co immer noch vergebens nach entsprechenden Glückwunschkarten. Überall nur ein Achselzucken von der Verkäuferin.
Also blieb mir nichts anderes übrig, als für meinen Enkel am Computer kreativ zu werden. Dabei machte ich folgende Milchmädchen-Rechnung auf: in Halle 600 Teilnehmer, von denen jeder bestimmt ein Dutzend Glückwunschkarten (natürlich mit entsprechendem Geldbetrag) von den Großeltern, Verwandten, Freunden und Nachbarn bekommt. Macht nach Adam Riese einige Tausend Karten – allein für Halle!
Wäre doch eine Bomben-Geschäftsidee!
Über eine mögliche Gewinnspanne will ich im Moment nicht spekulieren. Noch gebe ich dem Schreibwarenhandel eine letzte Chance, aber ich zögere nicht mehr lange mit der Beantragung eines Gewerbescheins.

Manfred Orlick

WeltTrends aktuell

Die Spannungen auf der koreanischen Halbinsel haben sich rapide verschärft. US-Außenminister Tillerson sprach bereits vom „Ende der Geduld“, Präsident Trump meinte jüngst, man werde „auch allein handeln“. Sollte der Raketenangriff auf einen syrischen Militärstützpunkt der Wink mit dem Zaunpfahl sein? Eine Raketenattacke wäre in der hochexplosiven Region mit den drei größten Kernwaffenstaaten und dem ebenfalls über diese Waffen verfügenden Nordkorea äußerst gefährlich. Im Thema beschäftigen sich Experten aus Russland, China und Korea mit der Lage auf der Halbinsel, während die US-Wissenschaftler George Lewis und Theodore Postol eingehend die mit dem US-Raketenabwehrprojekt verbundenen Probleme analysieren.
Im WeltBlick spricht sich der ehemalige bayerische Ministerpräsident Edmund Stoiber engagiert für die Entwicklung der deutsch-russischen Beziehungen aus. Die Frage müsse erlaubt sein, ob die bisherigen Sanktionen ihr Ziel erreicht haben, ob das der richtige Weg sei. Nichts aber wäre ein größerer Friedensgarant als gegenseitige Interessen und enge Wirtschaftsbeziehungen.
Im Zwischenruf erinnert Wolfgang Schwarz an in 1980er Jahren weit verbreitete Erkenntnisse hinsichtlich des Risikos finaler Kollateralschäden im Falle eines Atomkrieges – durch klimatische Folgen in Gestalt eines möglichen „nuklearen Winters“ –, die durch neuere wissenschaftliche Untersuchungen amerikanischer Experten bestätigt und konkretisiert wurden.
Statt im Sinne des 2-Prozent-Ziels der NATO mehr Geld für Rüstung auszugeben, fordert im Kommentar Katja Keul, Parlamentarische Geschäftsführerin der Bundestagsfraktion Bündnis 90/Die Grünen, mehr Mittel für die Stärkung multilateraler Organisationen, insbesondere der UNO, bereitzustellen.

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WeltTrends – Das außenpolitische Journal, Heft 127 (Mai) 2017 (Schwerpunktthema: „Krieg in Korea?“), Potsdam / Poznan, 4,80 Euro plus Porto. Weitere Informationen im Internet.

Blätter aktuell

Gut 20 Jahre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gewinnen die alten Ost-West- und Nord-Süd-Gegensätze wieder an Gewicht. Diese Grenzziehungen dienen der Definition des Eigenen und des Fremden sowie der Bildung geopolitischer Identitäten, schreibt der Politikwissenschaftler Ulrich Menzel. Sie sind somit immer Konstrukte, ihr Verlauf und ihre Reichweite entsprechen den Interessen des jeweiligen Auftraggebers.
Nicht erst seit seiner Wahl postuliert Donald Trump eine protektionistisch-restriktive Grenzpolitik. Gleichzeitig wirkt das neoliberale Mantra uneingeschränkter Marktfreiheit ungebrochen fort. Das postulierte unbegrenzte Wachstum trifft jedoch auf die begrenzte Kapazität eines gebeutelten Planeten, so die Politikwissenschaftler Elmar Altvater und Birgit Mahnkopf. Was am Ende bleibt, ist die wachsende Wut der Vielen, die den Wohlstand der Wenigen tragen.
Steigende Temperaturen und zunehmende Ressourcenkonflikte veranlassen immer mehr Menschen, sich auf den Weg nach Europa zu machen. Dort stoßen sie vielerorts auf eine Politik der Abschottung und Zurückweisung. Dabei ist es vor allem die imperiale Lebensweise des globalen Nordens, so die Politikwissenschaftler Markus Wissen und Ulrich Brand, die sich verschärfend auf den Klimawandel auswirkt, Ökosysteme vernichtet sowie zu sozialer Polarisierung und Verarmung führt.
Dazu weitere Beiträge – unter anderem: „Iranische Paradoxien. Streifzüge durch ein uneindeutiges Land“, „Für ein schnelles Aus: Der Kampf gegen die Kohle“ und „Das Proletariat: Vom revolutionären Popanz zum reaktionären Pöbel?“

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Blätter für deutsche und internationale Politik, Berlin, Mai 2017, Einzelpreis: 9,50 Euro, Jahresabonnement: 79,80 Euro (Schüler & Studenten: 62,40 Euro). Weitere Informationen im Internet.