20. Jahrgang | Nummer 8 | 10. April 2017

Wanderers Spur

von Erhard Weinholz

Viel gelesen wird Fontane nicht mehr, ein paar Titel kennt aber wohl fast jeder: Effi Briest, den Stechlin und auf alle Fälle die Wanderungen durch die Mark. Die fünf Bände zählen noch heute zu den märkischen Nationalheiligtümern und rangieren dabei gleich hinter dem Schloss Sanssouci, ein ganzes Stück vor dem Kahlbutz von Kampehl und dem Brandenburger Roland. Erzähle ich hierorts jemandem, dass ich gern wandere, und zwar vor allem durch die Mark, bekomme ich regelmäßig zu hören: Aha, auf Fontanes Spuren? Ja, so etwas in der Art, sage ich dann ausweichend.
Sein Buchtitel führt die Leserschaft nämlich in die Irre: Fontane ist meist gefahren durch die Mark, mit der Eisenbahn, mit der Kutsche, mit irgendwelchen Fuhrwerken sogar, wo man ihn freundlicherweise aufsitzen ließ. Und wenn er doch mal gewandert ist, an einem Wintertag nach Malchow etwa, hat er uns über den Weg zum Ziel meist wenig mitgeteilt. Denn sein eigentliches Feld waren nicht die bescheidenen Reize dieser Provinz, sondern die Schicksale derer, die sich dem echten alten Märkertum verschrieben hatten. In Pfarr- und in Herrenhäusern danach zu fragen und zu forschen verlangte zudem ein seriöses Auftreten, bürgerliche Kleidung also, und mit dem Koffer in der Hand wandert es sich sowieso schlecht. Auf die Landschaft richten sich die Sinne erst, wenn man wirklich auf Wanderschaft geht, allein und aus freien Stücken, und schreibt man dann über seine Wege, wird das Wandern selbst zum Thema, das Unterwegssein als Vergnügen und als Abenteuer. Man muss aber, um sich ganz darein zu vertiefen, von morgens bis abends auf den Beinen sein, zwei, drei Tage mindestens.
Zipetü, zipetü, rufen die kleinen Meisen: Der Frühling ist da, es wird Zeit aufzubrechen. Aber vom Morgen bis zum Abend oder auch nur bis zum späten Nachmittag, das sind sechs, sieben Stunden, also selbst bei mäßigem Tempo gut zwanzig Kilometer am Tag, und das ist nicht wenig. Vielleicht, so dachte ich vor ein paar Tagen morgens im Bett, fahre ich heute erst einmal mit Bahn und Bus zum Ostkreuz, kaufe dort im Victoriacenter etwas ein, das hatte ich sowieso vor, und wandere dann zur Übung in weitem Bogen hinüber zur Lichtenberger Brücke. Der Regen hatte sich erschöpft in der Nacht, also zog ich bald nach dem Frühstück die Jacke an und lief los.
Nur Kleinigkeiten hatte ich im Center kaufen wollen. Es gab aber gerade an diesem Tage die schönsten Sonderangebote, und obwohl ich zuletzt noch auf das Anderthalb-Kilo-Eisbein zum halben Preis verzichtet habe, war es zu viel. Doch das Wetter war so schön, und die Meisen riefen so eifrig ihr zipetü, zipetü, dass ich mir dachte: Wenn schon nicht in weitem Bogen, dann eben auf kürzestem Wege. Das heißt: Erst einmal an allerlei Neubauten vorbei zu einem Bahndamm hin. Ödes Gelände ist das hier einst gewesen, wo unter Gestrüpp leere Farbtöpfe und Fischbüchsen auf Ofenschutt lagen. Weiter dann unter dem Bahndamm hindurch zum Neubaugebiet Frankfurter Allee Süd, dort nach rechts, nach links, an einem zehnstöckigen Heim entlang, wo ich als Forschungsstudent vor … vor vierzig? Ja, vor vierzig Jahren einige Zeit gewohnt habe. Ich war vereinsamt damals, litt an Schlaflosigkeit und Depressionen. Wieder nach rechts; hinter alten Fabrikbauten aus bröckligem rotem Ziegelstein liegt zwischen struppigem Unkraut bergeweis Müll. Am Straßenrand schraubt jemand von einer alten Couch Beschläge ab – gutes Metall, wie er mir sagt. Schon dehnen sich östlich die Gleisanlagen des Bahnhofs Lichtenberg, schon ist vor mir die Frankfurter Allee zu sehen – aber wo ist die alte Lagerhalle mit den hölzernen Zierteilen? Wo ist mein Lieblingsbau hin? Ein Baumarkt füllt jetzt die Stelle. Nicht weit dahinter wölbt sich zur Rechten breit die Brücke über die Gleise.
Man blickt weit von hier oben. Ich habe den Arm aufs Geländer gelegt, schaue zurück nach Westen. Fast genau in der Mitte zwischen den zwei Hochhäusern vom Frankfurter Tor erscheint der Fernsehturm. Friedrich Dieckmann wollte ihn abreißen lassen, er wirkte ihm allzu beherrschend. Doch so wirkt er selten. Oft dient er als Wegweiser, zeigt als winzige Nadel am Horizont die Stadtmitte an. Hier wiederum habe ich das Gefühl, er gehöre, wolkenumhüllt, wie er dasteht, zur Kulisse eines utopischen DEFA-Films. Etwas rechts davon, nördlich der Allee, das ehemalige Oskar-Ziethen-Krankenhaus. Irgendwann hatte ich mich dort einmal mit einer viel jüngeren Krankenschwester, die mir auf eine Annonce geschrieben hatte, in ihrem Zimmer getroffen. Nach einiger Zeit ging ich noch einmal los, um Rotwein zu besorgen. Es war aber bald Besuchsschluss, ich musste also auf dem Rückweg den Pförtner umgehen, stieg über Mauern, zwängte mich durch Gebüsch. Etwa zehn Jahre später saß sie mir hier in der U-Bahn gegenüber, eine gut aussehende junge Frau. Ich schaute immer mal hin zu ihr, möglichst unauffällig, aber sie merkte es doch, schaute nun auch zu mir – und errötete. Gleich darauf stieg sie aus.
Leichter Dunst steht unten über den Bahnanlagen. In der Ferne, nach Süden zu, reihen sich drei Türme. Linkerhand, hinter den Häusern, läuft die Weitlingstraße. In einem Trödelladen dort, den es längst nicht mehr gibt, habe ich einmal einen alten Band der Wanderungen erstanden: Havelland. Die Landschaft um Spandau, Potsdam, Brandenburg, bei Max Hertz in Berlin 1889 in dritter Auflage erschienen. Es lohnt noch immer, dort nachzuschlagen, wenn man, sagen wir einmal, nach Paretz fährt; baulich hat sich wenig verändert. Über den Ort zu schreiben hieß für Fontane aber auch, über Friedrich Wilhelm und Luise zu schreiben. Stadtgeschichte dagegen lässt sich so eng nicht mit Lebensschilderung verbinden. Vielleicht liest man deshalb in den Wanderungen fast nichts über die Städte. Das Großstadtleben war Sache des Romans.
Der Autoverkehr über die Brücke ist enorm. Auf der Gegenfahrbahn hält jetzt der 240er Bus; einst, als 30er, fuhr er noch bis zur Charité. Ohne umzusteigen kam ich damit auf langem Wege von hier bis fast vor meine Haustür in der Dimitroffstraße. Ich wandere mit Vergnügen in der Stadt herum, doch weitreichende Verbindungen wie diese zu nutzen ist mir ebenso lieb: Es ist bequem und weist mich als Stadtkenner aus. In der Tradition Fontanes die Vergangenheit zu durchmustern ist dagegen, obwohl ich gern in den Wanderungen lese, nicht meine Sache. Geschichte kommt dennoch ins Spiel, wenn ich von meinen Unternehmungen berichte. Es ist aber, anders als bei ihm, meist meine eigene.