20. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2017

Inklusion?

von Heino Bosselmann

Unter der Regie des sozialdemokratischen Kultusministeriums von Mecklenburg-Vorpommern wird ein Lieblingsthema mit besonderem Engagement dirigiert, die sogenannte Inklusion, derzeit allerprioritärste Chefsache. Vielleicht folgerichtig, dass genau jenes Bundesland Vorbild sein will, in dem die soziale Exklusion besonders augenfällig ist. Obwohl beide Begriffe und Sachverhalte dialektisch korrespondieren, wird der Zusammenhang zwischen ihnen nirgendwo hergestellt. Jener der Exklusion wurde namentlich durch den Soziologen Heinz Bude in den Diskurs eingetragen, als sich die Aufmerksamkeit von Wissenschaft und Publizistik ab den Nullerjahren dem Phänomen der „Abgehängten“ zuwandte, nachdem Effizienzsteigerung dank Digitalisierung, Deregulierung und Hartz-IV-Politik nicht nur eine neue Armut verursacht hatten, sondern damit die kulturelle Teilhabe von immer mehr Menschen reduzierten. Es etablierte sich ein Milieu prekärer Arbeitsverhältnisse oder „Maßnahmekarrieren“, das zunächst der Soziologie, dann aber der Politik Sorge bereitete, zumal es in Deutschland fatalerweise die Sozialdemokratie war, die Exklusionsprozesse für ihre Politik vermeintlicher Modernisierung in Nachahmung von Tony Blairs „New Labour“ riskiert hatte.
Was für die alleinseligmachende Wirtschaft und für den Konsumismus, diesen letzten Kitt der Konsensgesellschaft, von Vorteil war, erwies sich sozial als problematisch, insofern aus der Arbeiterschaft und dem Mittelstand immer mehr Menschen in ein Prekariat absanken, das über Mindestlohn oder Arbeitslosengeld II zwar auf unterem Discounter-Niveau überlebensfähig grundversorgt war, aber weder am Reproduktionsprozess noch am Kulturellen zum eigenen Nutzen Anteil hatte und sich so der Berliner Republik zu entfremden begann, tendenziell nach rechts driftend, weil die Linke ihren sozialrevolutionären Impetus aufgegeben und sich bequem in der „Mitte“ eingerichtet hatte.
Was Ökonomie und die Sozialpolitik weder korrigieren können noch wollen, weil es sich bei der Exklusion um einen irreversiblen Prozess handelt, das soll mit ihren Inklusionsbemühungen die Schule richten. Grundlage ist die idealistische Illusion, der Mensch würde durch Bildung zu bessern sein und erhöhe dadurch zudem seine sozialen Aufstiegschancen. Schwierig, da allein schon der Begriff der Bildung mittlerweile semantisch unklar ist, insofern er in der ideell erschöpften Republik kaum mehr mit Anstrengungsbereitschaft, Selbstüberwindung und individuellem Fleiß verbunden wird, sondern vielmehr mit dem pauschalen Versprechen, jeder wäre überallhin zu fördern, wenn die Pädagogik nur die richtigen Methoden anwendete. Ganz im Sinne des gerechtigkeitsrhetorischen Diktums der „Antidiskriminierung“ darf der Leistungsschwache längst nicht mehr als „Sorgenkind“ gelten, sondern soll Bereicherung sein. Wenn selbst am Gymnasium Allgemein- und philologische Bildung als antiquiert gelten, können Unterricht und Nachrichten „in einfacher Sprache“ ja kein Makel sein, im Gegenteil. Damit geht ein Moralismus einher, der die bislang bewährte Förder- oder gar Sonderschulbildung als negative „Selektion“ auffasste. Über Schwierigkeiten tröstet man sich mit Förderplänen, also beschriebenem Papier hinweg. Wo das nicht hilft, gibt es „Nachteilsausgleiche“ und so allerlei Diagnosebegriffe, vorzugsweise jenen der „emotional-sozialen Störung“, die dem Retardierten Bewertungsboni sichern. Um entgegen kritischer Wahrnehmung eine Anthropologie zu rechtfertigen, die allen alles zutraut, werden aufwendige Kampagnen inszeniert und teuer bezahlte Institutionen geschaffen, die die Inklusionspädagogik als famoses Heilungsprogramm herausstellen. Die traditionell autoritätsgläubige Lehrerschaft folgt diesem Ansinnen.
In Mecklenburg-Vorpommern sind es insbesondere die Regionalschulen, die einstige Förder- und vormalige Hilfs- beziehungsweise Sonderschüler aufnehmen. Diese waren bereits vorher Resteschulen, da jeder Siebenklässler, der irgendwie kann und Erziehung mitbringt, kraft Elternwunsch nach der Orientierungsstufe aufatmend an die Gymnasien wechselt, die nicht nur in Mecklenburg-Vorpommern als neue Gesamtschulen fungieren. Das funktioniert so leidlich, indem sie ihre Anforderungen senkten und die Benotung inflationierten, mit der bekannten Folge, dass etwa zwanzig Prozent der Abiturienten, so sie überhaupt ein Studium aufnehmen, bereits mit dem Bologna-Abschluss Bachelor überfordert sind oder durch einfache Sprachtests fallen, wie es jüngst innerhalb des Bundeskriminalamt-Einstellungsverfahrens geschah.
Regionalschulen wiederum dünnten Inhalte noch konsequenter aus, verzichten vollständig auf Anforderungen und erfanden sich für die Schwächsten und Unwilligsten wohlklingende, aber hohle Scheinabschlüsse wie die „Berufsreife“, die genau das verspricht, was sie nicht hält, nämlich die Kompetenz für eine qualifizierte Facharbeiterausbildung. Zur Mittleren Reife sehe man sich indessen die Prüfungsaufgaben auf dem Online-Bildungsportal des Kultusministeriums an. Man wird dort in etwa das frühere Hauptschulniveau widergespiegelt findet. Überhaupt: Wer sich jenseits aller Studien und Analysen ein Bild von der Bildungsqualität in Deutschland entwickeln möchte, der blättere sich kritischen Blicks einfach durch Lehrbücher, insbesondere durch jene des Deutschunterrichts. Er wird erschüttert sein. Lesebücher wird er übrigens gar nicht mehr finden.
Was so ausnehmend gerecht, antidiskriminierend und hochmoralisch klingt, stellt für die Lehrer an den Regionalschulen eine schwierige Aufgabe dar. Das, was als Restbestand an Bildung verblieb, vermitteln sie jetzt irgendwie auch den einstigen Förderschülern, und zwar innerhalb von Klassenverbänden, die bereits zuvor die kognitiv und sprachlich Limitierten und die Verhaltensauffälligen versammelten. Der gesunde Menschenverstand urteilt schon richtig: Das mag man sich wünschen; es ist aber nahezu unmöglich, wenn das fachliche Niveau bereits kaum tiefer einzustellen ist und sich die Pädagogen vor allem intensiver Erziehungsarbeit widmen müssen, die unter Extrembelastung der Lehrkräfte auf Kosten des Restes fachlicher Bildungsarbeit geht.
Fazit: Bei der Inklusionsidee handelt es sich um eine ideologische Konstruktion, die die Schulen politisch-administrativ in die Pflicht nimmt. Mit ihr wird ein soziokultureller Missstand zu kurieren versucht, der nur sozialökonomisch zu ändern wäre, was so nicht geschieht und nicht gelingen kann, es sei denn in den sich selbsterfüllenden Prophezeiungen kultusministerieller Programmschriften. Letztlich: Wo dank Digitalisierung und globaler Arbeitsteilung immer weniger gebraucht werden und es mehr auf den alimentierten Konsumenten als auf den qualifizierten Produzenten ankommt, reduziert sich Bildung auf Ausbildung, vorzugsweise zum Dienstleister oder Billiglöhner, während die gutbezahlte Elite des MINT- oder Bürokratiebereichs eine ausgedünnte Spitze darstellt, die den Rest miterhält und mitverwaltet.