20. Jahrgang | Nummer 5 | 27. Februar 2017

Film ab

von Clemens Fischer

In seinem Schwarz-Weiß-Klassiker „Rashomon“ von 1950 erzählte Akira Kurosawa ein und dasselbe Geschehen, die Vergewaltigung einer Frau und die Ermordung ihres Gatten, aus der Perspektive von vier Personen: der der Opfer, der des Täters sowie der eines Zeugen. Kurosawa beleuchtete damit die Frage, ob so etwas wie eine objektive Wahrheit überhaupt möglich sei, da doch jedes Zeugnis durch Individuen (mit ihren unterschiedlichen bis gegensätzlichen Interessen) und daher subjektiv abgelegt werde. Der Film, der Kurosawa international bekannt und seinen Hauptdarsteller Toshirō Mifune zum Weltstar machte, setzte formal und künstlerisch Maßstäbe.
Letzteres kann auch der „Taschendiebin“ des südkoreanischen Regisseurs Park Chan-wook (2004 Großer Preis der Jury in Cannes für „Oldboy“, den ebenso mystischen wie brutalen Auftakt seiner Rache-Trilogie) konzediert werden – allerdings in völlig anderer Hinsicht: Ästhetischer fotografiert worden ist die Ausübung lesbischer Sexualpraktiken selten. Die Kritik spricht von einem erotischen Thriller. Doch während der Thrill sich in Grenzen hält – keines Zuschauers Hände werden sich instinktiv in die Armlehnen der Kinosessel krampfen –, ist die Erotik ebenso opulent wie subtil und nicht zuletzt auch völlig nackt ins Bild gesetzt. Man tut dem Film durchaus Gerechtigkeit an, wenn man ihn einen künstlerischen Softporno heißt. Und zwar einen, in dem „die Trash-Elemente wirken wie klassisches Ballett“, so die treffliche Formulierung einer Rezensentin.
„Die Taschendiebin“ erzählt die Geschichte einer begüterten jungen Frau, die sich mittels eines Hochstaplers und einer angeblichen Dienstmagd – eben jener Taschendiebin, deren Profession aber bloße Behauptung bleibt, während ihr Geschick im Fälschen von Stempeln für den Ausgang des Ganzen eine essentielle Bedeutung erlangt, – aus den Fängen ihres perversen Vormunds befreien will.
Seine Spannung zieht der Film daraus, dass sich im Verlaufe dieser Dreiecksgeschichte, in der zunächst jeder jeden betrügt, die Voraussetzungen, Fronten und Ziele verschieben und die Resultate der Handlungen keineswegs nur den ursprünglichen Intentionen entsprechen.
Dass Park Chan-wook dabei auf Kurosawas Kunstgriff verfällt und das Geschehen in drei aufeinander folgenden Partien jeweils aus der Sicht eines der Hauptbeteiligten erzählt, schafft Raum für manche überraschende Volte und wirft beim Zuschauer nicht zuletzt – wie schon „Rashomon“ – die Frage auf, ob man selbst seinen eigenen Augen eigentlich überhaupt trauen kann.
Chan-wooks Film hat eine literarische Vorlage: einen im viktorianischen England angesiedelten Roman von Sarah Waters. Die Handlung ist ins japanisch besetzte Korea der späten 1930er Jahre des vergangenen Jahrhunderts verlegt. Das hat dem Resultat der 145 Minuten langen Arbeit nicht geschadet. Der ursprüngliche Titel jedoch hätte beibehalten werden sollen: „Solange du lügst“.
„Die Taschendiebin“, Regie: Park Chan-wook. Derzeit in den Kinos.

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Den gleichnamigen Kinder- und Jugendbuchbestseller von James Krüss aus dem Jahre 1962 kannte mein Enkel Leo noch nicht. Doch Regisseur Andreas Dresen hat Handlung und Seele des Buches so kongenial ins Kino übertragen, dass der achtjährige Steppke des Großvaters (semipädagogische) Nach-der-Vorstellung-Frage, worum es denn überhaupt gegangen sei, in einem Tonfall beantwortete, der das Unverständnis für die offensichtliche Begriffsstutzigkeit des Opas nicht unterdrückte: „Geld ist nicht das Wichtigste im Leben, sondern Freundschaft und dass man sich lieb hat.“
Und wie ihm der Film insgesamt gefallen habe?
„Gut.“
Was als Bewertungsentäußerung bei achtjährigen Knaben bekanntlich in der Komplexität Urteilsbegründungen des Bundesverfassungsgerichts kaum nachsteht. Hier könnte die Besprechung also mit einem apodiktischen „Unbedingt ansehen!“ enden.
Gäbe es da nicht noch…
… einen höchst sympathischen jugendlichen Hauptdarsteller namens Arved Friese, den man sich sofort in weiteren Rollen wünschte, ohne dass dies seinem weiteren Leben zum Nachteil gereichte.
… eine vom Drehbuchautor Alexander Adolph hinzuerfundene gleichaltrige Freundin Timms, die, wie Cornelia Geissler (Berliner Zeitung) mit feinem Gespür erkannt hat, „Jule Herrmann mit einem Ernst darstellt, wie er Kindern eigen ist, die mehr erlebt haben, als man ihnen wünschen wollte“.
… einen Charly Hübner, der in Erinnerung rufen darf, dass sein prollig-cholerischer Ermittler Buckow im Rostocker „Polizeiruf 110“ keineswegs das Einfühlsamste ist, das er darzustellen vermag.
… einen Justus von Dohnányi, der den Oberbösewicht der Geschichte, den Baron Lefuet – nur für die wenigen Leser, die überhaupt noch keine Berührung mit Timm Thaler hatten: den Namen einfach mal rückwärts lesen! –, auf so diabolisch-beeindruckende Weise gibt, dass Erwachsenen mit Sinn für Makabres und schwarzen Humor hier dessen Film „Desaster“ von 2015 – Buch und Regie: Justus von Dohnányi; in Haupt- und Nebenrollen außer ihm selbst: Jan Josef Liefers (ohne Axel Prahl!), Stefan Kurth, Anna Loos, Angela Winkler und Milan Peschel – einfach mal empfohlen werden muss!
… einen Sachverhalt, der anhaltinische Hallenser (wie den Besprecher) interessieren dürfte: dass nämlich am Anfang des Films die Hallesche Marktkirche „Unser Lieben Frauen“ auf der Leinwand erscheint und dass auch etliche weitere Szenen in der Saalestadt gedreht wurden.
Zumindest dieses Alles sollte hier dann doch noch knapp Erwähnung gefunden haben.
„Timm Thaler oder das verkaufte Lachen“, Regie: Andreas Dresen. Derzeit in den Kinos.