20. Jahrgang | Nummer 1 | 2. Januar 2017

Digitale Ambivalenz

von Ulrich Busch

„Man kann ohne Übertreibung sagen, dass die Digitaltechnik zu einem Fundament einer technisch orientierten Zivilisation geworden ist“, so Raimund Neugebauer, Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft. Andere sehen die Digitalisierung sogar als Kernprozess einer vierten industriellen Revolution, als Quantensprung der technischen Entwicklung und als historisch beispiellosen Prozess des Wirtschaftswachstums, der Produktivitätssteigerung, der Wohlstandsmehrung und des gesellschaftlichen Fortschritts. Einige gar werten die Digitalisierung als Initial für eine Transformation der Gesellschaft in Richtung Postkapitalismus. Dies alles weist der Autor vorliegenden Buches vehement zurück. Er sieht hierin „falsche Versprechen“ der Unternehmen, der Wirtschaft und vor allem der Politik, Versprechen, welche die Digitalisierung nicht einlösen kann. Dem heutzutage unter dem Label „Industrie 4.0“ verbreiteten Technikoptimismus, verbunden mit einer naiv-euphorischen Sicht auf die ökonomischen und sozialen Wirkungen der Digitalisierung, stellt er eine kritisch-distanzierte Analyse der sich vollziehenden Wandlungsprozesse gegenüber, welche nicht nur die verbreiteten Erwartungen als völlig überzogen entlarven, sondern auch die damit in Mode gekommenen Geschäftsmodelle als Formen verschärfter Ausbeutung und häufiger prekärer Beschäftigung darstellen.
Der Sozialwissenschaftler Philipp Staab sieht zwischen dem Industrie- und Dienstleistungskapitalismus unserer Tage und dem aufkommenden digitalen Kapitalismus keinen Gegensatz, sondern Kontinuität. Mithin führt für ihn die digitale Revolution auch nicht in eine postkapitalistische Gesellschaft, sondern lediglich in einen neuen Kapitalismus, der, ebenso wie der alte, gute und schlechte Seiten hat. Dies zeigt sich schon darin, dass die Motoren des digitalen Fortschritts, die Megafirmen Apple, Google, Microsoft, Amazon und Facebook alles andere sind als Hoffnungsträger für eine postkapitalistische Entwicklung, ja sie sind nicht einmal Garanten für einen halbwegs humanen Kapitalismus. Der Autor zeigt anschaulich, wie sich seit den 1990er Jahren auf der Grundlage der „digitalen Ideologie“ und von ihr gefördert die digitale Ökonomie herausgebildet hat. Insbesondere führte die Kombination aus liberalem Individualismus und technologischem Determinismus zu einer Geisteshaltung, wie sie gegenwärtig überall, besonders in der jüngeren Generation, anzutreffen ist. In dieser Haltung fusionieren maßloser Technologieoptimismus, skrupelloser Geschäftssinn und unrealistische, aber nichtsdestotrotz „überschwängliche Weltverbesserungsambitionen“. Die für die digitale Ökonomie charakteristischen Innovationen setzen sich überwiegend „disruptiv“ durch und bewirken daher keinen graduellen, sondern einen radikalen Wandel. Disruption jedoch als ökonomisches Entwicklungsmodell führt zu mehr als „schöpferischer Zerstörung“ à la Schumpeter; sie bewirkt in der Unternehmenskultur und in der Arbeitswelt eine „globale Verwüstung“.
Interessant ist, dass die Digitalisierungsprozesse und -innovationen insbesondere in der Verteilung sowie in der Zirkulations- und der Konsumtionssphäre auftreten. In den Augen des Autors zeigt sich hierin ein „zentrales Element des digitalen Kapitalismus“: Die Technisierungsprozesse betreffen nicht nur und nicht einmal vorwiegend die Produktion, sondern greifen vor allem auf die Distribution, Zirkulation und Konsumtion zu. Dem wird die besonders in Deutschland auf die Industrie zentrierte Debatte um das Programm „Industrie 4.0“ nicht gerecht, denn hier wird ausgeblendet, dass die hauptsächlichen Restrukturierungsprozesse derzeit im Bereich konsumnaher Dienstleistungen stattfinden, nicht aber in der Produktion.
Das Fazit der vorliegenden Studie ist, dass sich mit der Digitalisierung in Wirtschaft und Gesellschaft zwar gewaltige Veränderungen vollziehen, diese aber weder zu einer völlig neuen (postindustriellen) Produktionsweise noch zu einer neuen (postkapitalistischen) Gesellschaft führen. Entgegen weit verbreiteten Annahmen und Erwartungen führt die Digitalisierung auch nicht zu einem sprunghaften Anstieg des Wirtschaftswachstums und zu einer drastischen Freisetzung von Arbeitskräften. Vielmehr ist mit einer wachsenden Differenzierung des Arbeitskräftebedarfs zu rechnen und mit einer weiteren sozialen Polarisierung, diesmal „entlang digitaler Kompetenzen“. Also nichts mit „Großer Transformation“ und „Kommunismus 2.0“. Stattdessen wird man sich auf einen neuen Kapitalismus einstellen müssen, einen Kapitalismus, der noch dynamischer, noch zerstörerischer und noch unsozialer sein wird als der bisher gekannte.
Aber es gibt auch Hoffnung: die neuen Technologien bergen in bestimmtem Maße auch Demokratiepotentiale in sich, mehr Transparenz und Information für alle sowie Chancen auf mehr Wohlstand in der Welt. Sie sind daher in ihren Wirkungen auf Wirtschaft und Gesellschaft durchaus ambivalent. Wie viel davon umgesetzt und realisiert wird, ist jedoch keine technische oder ökonomische, sondern allein eine politische Frage. Das Buch von Philipp Staab kann helfen, hier Illusionen abzubauen und die richtigen Antworten auf die neuen Fragen des digitalen Kapitalismus zu finden. Man sollte es aufmerksam lesen!

Philipp Staab: Falsche Versprechen. Wachstum im digitalen Kapitalismus, Hamburger Edition, Hamburg 2016, 136 Seiten, 12,00 Euro.