19. Jahrgang | Nummer 25 | 5. Dezember 2016

„Ik neig mi vor keinem!“

von Dieter Naumann

Für den in Stralsund geborenen pommerschen Chronisten Thomas Kantzow (um 1505–1542) sind im 16. Jahrhundert die Einwohner Rügens „ein sehr zänkisch und mordtisch Volk […] Denn im ganzen Lande zu Pommern werden kein Jahr soviel vom Adel und andern erschlagen, als allein in dieser kleinen Insel […] sonderlich gerathen sie in den Krügen oder Wirthshäusern leichtlich aneinander […] Und geschieht in den Krügen soviel Schlagens und andere Injurien, dass oft ein Edelmann, der einen Krug hat, so viel von Buße und Strafgeld ein Jahr daraus gewinnt, als sonst von einem halben oder ganzen Dorfe. Und wo die Rügianer gehen und oder reisen, haben sie einen Schweinspieß und einen Reuthling an der Seiten […] und in Summa, man findet sie nirgends, sie haben ihre Wehre bei sich […] “
Dieses Zitat aus Kantzows „Pomerania oder Ursprunck, Altheit und Geschichte der Völcker und Lande Pomern, Cassuben, Wenden, Stettin, Rhuegen“ war nicht die einzige wenig schmeichelhafte Charakterisierung der Bewohner der Insel in der historischen Rügen-Literatur. Theodor Fontane (1819–1898), der im September 1884 Rügen besuchte und im Hotel Fahrenberg in Sassnitz logierte, schrieb in seine Tagebücher nach einigen Freundlichkeiten über die Landschaft kurz und knapp: „Volk, das einen schröpft, fast schlimmer wie auf Norderney.“
Ganz anders der 1886 herausgegebene 13. Band des „Brockhaus´ Conversations Lexikons“: „Die Bewohner, ein fleißiger, sparsamer und biederer Menschenschlag, sind gute Schiffer, Lotsen und Fischer“, heißt es hier. Auch der Reiseführer Dunker von 1888 lobt: „Die Bewohner sind bieder, fleissig und sparsam, gute Schiffer, Lootsen und Fischer.“ „Es ist ein sehr kräftiger Menschenschlag, der sich durch ein dem lebhaften Süddeutschen oft als Trägheit erscheinendes Phlegma auszeichnet. Doch ist der Rügianer nichts weniger als träg, sondern im Gegenteil ein tüchtiger intelligenter, namentlich aber auch ausdauernder Arbeiter, der durch Ackerbau und Viehzucht, durch Schiffahrt und Fischerei die von seinem Vaterlande gebotenen Vorteile trefflich zu nützen weiß“, schrieb der Reiseführer Schuster von 1913–1914.
Der vermutlich kleinste Rügen-Reiseführer, die Nummer 1128 aus der Reihe Miniatur-Bibliothek des Leipziger Verlages für Kunst und Wissenschaft Albert Otto Paul, 122 x 80 mm „groß“, charakterisiert die Bewohner Rügens als „meist kernhafte, wetterfeste Leute von ernstem Sinn, die Gott fürchten und sonst nichts auf der Welt“. Das hatte 1847 schon Eduard Duller (1809–1853) in seiner Schrift „Das deutsche Volk in seinen Mundarten, Sitten und Gebräuchen“ festgestellt: Die rügensche Bevölkerung sei „hartnäckig das zu behaupten und durchzufechten, was jeder für sein Recht hält; bei allem bedächtigen Ernst doch leicht im Zorn aufbrausend; wenig geneigt, sich von Höheren was gefallen zu lassen“.
Den speziellen Umgang mit kirchlichen und weltlichen Obrigkeiten widerspiegeln auch zahlreiche Episoden, die in der Rügen-Literatur gern erzählt werden. Wen interessiert dabei, dass nicht alle datiert oder einer verlässlichen Quelle zugeordnet werden können?! Selbst wenn die Ereignisse nicht oder nicht so stattgefunden haben: gut erzählt und amüsant sind sie allemal.
Carl Eduard Schilling, Leuchtturmwärter, Telegraf, Vorsteher der Kriegsküstenbeobachtungsstation, Kochbuchautor, hochdekorierter Lebensretter und Hotelbesitzer am Kap Arkona in einer Person, liebevoll „Vadder Schilling“ genannt, war allerdings auch für seine wohl eher gutgemeinte Grobheit bekannt. Als Friedrich Wilhelm, Prinz von Preußen, der spätere Kaiser Friedrich, in seinen Jugendjahren das Kap aufsuchte und nach der Begleichung der Zeche drei größere Geldstücke zusätzlich hinlegte, soll Schilling geknurrt haben: „Wat soll dat, dat kümmt mi nich to!“ Der Begleiter des Prinzen rettete die peinliche Situation mit den Worten: „Nehmen Sie nur, die Grobheiten bezahlt Königliche Hoheit extra!“
Zwei Episoden befassen sich mit dem Pächter des 1803 errichteten Königlichen Gasthofs Stubbenkammer. Der „Münchhausen von Rügen“, Vater von sechs Söhnen und einer Tochter, soll den Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. an der Nase herumgeführt haben: Auf dessen Frage nach der Zahl seiner Kinder antwortete Behrend, er habe sechs Söhne und jeder von ihnen habe eine Schwester. Majestät sollen sehr erstaunt über die zwölf Kinder des Pächters gewesen sein. Die zweite Episode findet sich im Band VI der Deutschen Ilustrirten Zeitung von 1886/87. Demnach soll Behrend zwar in der Stubnitz, einem Domänenwald, gewohnt, aber keine Pacht gezahlt haben. Als dies die Stralsunder Regierung bemerkte, schickte sie einen jungen Assessor, der mit Behrend einen neuen Kontrakt vereinbaren sollte. Behrend empfing ihn, setzte ihm das Beste seiner Küche vor, sparte auch nicht mit schwerem Wein und schlug dem jungen Beamtenanwärter schließlich vor, künftig das Doppelte an Pacht zu zahlen. Der Assessor wusste zwar nicht, was Behrend bisher gezahlt hatte, war sich aber sicher, dass das Doppelte Stralsund imponieren müsste. Als er der strebsame junge Mann nach Stralsund zurück kam und über seinen Erfolg berichtete, brachen selbst die ernsten Räte in Gelächter aus, „denn was das Doppelte von Null bedeute, war klar“.
Über den Tag der Grundsteinlegung des Leuchtturmes auf der Insel Greifswalder Oie am 24. August 1853 wird folgende Anekdote erzählt: König Friedrich Wilhelm IV. von Preußen, der an der Grundsteinlegung teilgenommen hatte, besuchte danach eines der Bauernhäuser auf der Insel. In der guten Stube des Bauern hingen – wie damals häufig üblich – die Bilder des Königspaares an der Wand. Es waren freilich nur grellbunte Bilder aus der Buchdruckerei von Gustav Kühn in Neuruppin, das Stück für einen Silbergroschen, die zudem einfach mit Kleister auf die weißgetünchte Wand gepappt waren, da sich der Bauer Bilderrahmen nicht leisten konnte. Sie müssen schon recht lange gehangen haben, denn die Bilder waren arg verunreinigt, was natürlich auch dem König auffiel. „Arme Elisabeth“, soll er ausgerufen haben, „wie siehst du aus? Was hat man dir angetan?“ Treuherzig habe der Bauer erklärt: „Nehmen Se man nich äwel, Herr König; dor hebben de Fleigen `bäten up schäten!“ (da haben die Fliegen ein wenig drauf gesch…). Der offenbar gutgelaunte König soll dem Bauern später aus Berlin je ein Bild von sich und seiner Gemahlin in Goldrahmen und durch Glas geschützt geschickt haben.
Fritz Worm (1863–1931), Mönchguter Lehrer und Heimatforscher, erzählte von der Begegnung Otto von Bismarcks mit dem Kutscher Freiherr aus Darsband, der ihn und seine Frau von Putbus zum Jagdschloss Granitz bringen sollte. Auf die besorgte Frage von Johanna von Bismarck, ob der alte Kutscher sie auch wohlbehalten befördern könne, soll der wegen seiner Derbheit und Respektlosigkeit gegenüber Rang, Stand und Würden bekannte Kutscher geantwortet haben, „ich habe schon ganz anner Lüd gefahren als Sie sin“.
Bleibt noch die Episode, die diesem Beitrag den Titel gegeben hat: Einige Mönchguter wurden um 1900 bei einer Ausstellung in Berlin dem Kaiser vorgestellt. Zurückgekehrt in ihr Dorf, fragte sie der Küster, ob sie sich auch schön vor Seiner Majestät verneigt hätten. Der Wortführer der Mönchguter sah den Küster verwundert an und sagte: „Ik neig mi vor keinem!“