19. Jahrgang | Nummer 22 | 24. Oktober 2016

Healing of Memories?

von Hermann-Peter Eberlein

In wenigen Tagen beginnt die Evangelische Kirche in Deutschland mit ihren Veranstaltungen zum fünfhundertsten Jubiläum der Reformation, die ihren Höhepunkt am 31. Oktober 2017 in Wittenberg finden sollen. Bewusst will man sich absetzen vom konfessionellen Heldenpathos und schon gar vom deutschnationalen Chauvinismus vergangener Säkularfeiern, bewusst will man ökumenisch, gemeinsam mit den Katholiken – ja, was eigentlich? Feiern? Für die römische Kirche ist da nichts zu feiern. Gedenken? Aber wie? Ein gemeinsames Wort der Deutschen Bischofskonferenz und der Evangelischen Kirche in Deutschland sagt es uns: Gemeinsam gedenken heißt Erinnerung heilen – Jesus Christus bezeugen. Auf immerhin 90 Druckseiten – inklusive Bestellhinweis für Devotionalien – wird Gemeinsamkeit beschworen und werden Differenzen relativiert. Zentraler Begriff dabei ist die aus der therapeutischen Arbeit in Südafrika, Ruanda oder Nordirland bekannte Methode des Healing of Memories. Doch damit wird das Papier weder der historischen Wirklichkeit gerecht noch entspricht es der Forderung begrifflicher Klarheit – und der kirchlich verfasste Protestantismus erweist sich mit ihm einen Bärendienst. So nimmt es nicht wunder, dass bald Kritiker auf den Plan getreten sind: so der Wuppertaler Theologieprofessor Martin Ohst, sein Wiener Kollege Ulrich Körtner und der vielleicht profilierteste Vertreter derzeitiger liberaler Theologie, der Münchner Emeritus Friedrich Wilhelm Graf.
Historische Wirklichkeit: Die moderne Sichtweise, dass die Verquickung von Kirche und Macht, dass Gewaltanwendung im Namen des Glaubens unchristlich und vom Übel sei, entspricht zwar heutiger political correctness, aber nicht dem historischen Befund. Im Gegenteil: Die Ausübung von Gewalt etwa gegen Irrlehrer ist für den mittelalterlichen Theologen im Gefolge Augustins geradezu ein Akt der Nächstenliebe; die Anwendung des geltenden Strafrechts gegenüber Störern der öffentlichen Ordnung ist konsequent in einer Gesellschaft, in der – auf beiden Seiten des konfessionellen Grabens – „der religiöse Kultus zur öffentlichen Ordnung“ gehört (Ohst). Das mag unsere Generation ganz schrecklich finden – es verrät aber ein gerüttelt Maß historischer Dummheit (oder bewusster Manipulation), heutige Maßstäbe an Zeiten anzulegen, die diese Kriterien nicht hatten. Legitim ist es nur, mit dem Maßstab der Kritik zu messen, über den eine Epoche selbst verfügte: Calvins Verteidigung der Verbrennung Servets etwa an den Schriften seines einstigen Weggefährten und späteren Gegners Sebastian Castellio, der durch diese Affäre zum Vordenker der Toleranz wurde.
Begriffliche Klarheit: Das gemeinsame Papier redet von Versöhnung, von Scham über einstmals begangene gegenseitige Verletzungen und über die Schuld, die Christen verschiedener Konfessionen im Laufe der Jahrhunderte auf sich geladen haben. In ökumenischen Buß- und Versöhnungsgottesdiensten soll die Schuld bekannt und um Vergebung gebetet werden. Doch um welche Schuld geht es? Um Schuld im Sinne einer zu erbringenden Rechtsleistung, bei der irrelevant ist, wer sie bezahlt – wenn sie nur bezahlt wird? Dann immerhin wäre ein Schuldenerlass nach dreihundert Jahren möglich – aber eine solche Schuld besteht gar nicht. Also geht es doch um ein Schuldgefühl, um eine moralische, innere Schuld, von der jedoch schon Kant gezeigt hat, dass sie eben „keine transmissable Verbindlichkeit“ ist, die von anderen übernommen werden kann, sondern die man nur selbst tilgen kann.
Das ist eben das Fatale aller verspäteten Schuldbekenntnisse – ob es um Kolonialismus geht oder Rassismus, um Religionskriege oder die Verfolgung von Homosexuellen –, dass sie moralische Schuld unter der Hand auch noch in nur äußere Schuld verwandeln. Am Ende geht es bei solchen pseudo-moralischen Eingeständnissen meist nur darum, dass wir uns wohlfühlen können, wenn wir die moralische Verwerflichkeit unserer Vorväter eingestanden haben. Das ist beim gemeinsamen Papier nicht anders. Healing of Memories funktioniert nur, solange die Täter und die Angehörigen der Opfer noch leben, im Bezug auf lange zurückliegende Epochen ist sie Unsinn.
Bärendienst: Katholiken und Protestanten sind nicht mehr das, was sie zu Luthers Zeiten waren. Der Katholizismus ist eigentlich erst mit dem Tridentinum zu einer partikularen Konfession geworden: in der pädagogischen Methode hoch-, in der Theologie antimodern, daran hat erst das zweite Vatikanum zaghaft etwas geändert; und erst seit dem ersten Vatikanum ist die katholische Kirche wirklich zu einer Papstkirche geworden.
Der Protestantismus in Europa hat sich in weiten Teilen der Aufklärung geöffnet und der Kritik, ja er hat sie in ihrer extremen Form sogar so weit getrieben, dass er sich selbst in seiner kirchlichen Form obsolet gemacht hat. Heinrich Heine hat den Beginn dieses Prozesses in seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland klassisch beschrieben; die Namen Kant und Hegel, die der linken Hegel-Schüler einschließlich Feuerbach und Marx stehen für diese Linie und auch Nietzsche. Wer intellektuell rechtschaffen Protestant sein will, kommt um die Auseinandersetzung mit der Religionskritik eigener Provenienz nicht herum. Für das Gemeinsame Wort liegt all das jenseits des Gewollten. Mit diesem Papier gibt die Evangelische Kirche in Deutschland ihre eigene Tradition auf.
„Seit der Luther-Effekt in der Welt ist, gibt es effektive Kritik“, hat Peter Sloterdijk jüngst in der Neuen Zürcher Zeitung in einem höchst lesenswerten Artikel mit dem Titel „Luther und die Folgen – Glaube, Fegefeuer des Zweifels“ geschrieben. Nimmt sich der Protestantismus den Willen zur Kritik, nimmt er sich das Beste, was er hat und ist. Immerhin konzediert Sloterdijk ihm noch die Fähigkeit, vielleicht doch gelegentlich ein wenig stimulierendes Gift zu verspritzen. Ansonsten lautete seine Diagnose, der Protestantismus ruhe seit geraumer Zeit im Abklingbecken der Geschichte. Man braucht die Metapher nur ein wenig abzuändern, um sich vorzustellen, welche Zerfallsprodukte dann – lässt man ein charismatisches Halleluja-Christentum amerikanischen Stils einmal als für unsere Gefilde nicht kulturprägend beiseite – übrigbleiben: ein am Katholizismus orientiertes klerikales Kirchentum des heilsamen Gehorsams und eine aufgeklärte, säkulare Gesellschaft, die von immerwährender Selbstkritik lebt. Das Gemeinsame Wort weist in die erste Richtung, die Geschichte des protestantischen Denkens in die letztere. Da weiß ich doch, wo ich hingehöre.