19. Jahrgang | Nummer 19 | 12. September 2016

Strahlende Zukunft. Im Nahen Osten gilt Atomenergie als schick

von Richard Probst

Als im Mai Pläne der EU-Kommission bekannt wurden, Forschung im Nuklearbereich künftig wieder stärker zu fördern, ließ die Kritik an diesen Plänen nicht lange auf sich warten. Bundesumweltministerin Barbara Hendriks sprach zu Recht von einer „verrückten und unverantwortlichen Idee“. Es folgte eine kurze Phase der öffentlichen Aufregung. Die öffentliche Empörung blieb – ungeachtet des anhaltenden Baus von Kernkraftwerken weltweit ­– von kurzer Dauer. Nicht nur ein Blick nach China und Indien sondern auch über das Mittelemeer in die krisengeschüttelte Region des Nahen und Mittleren Ostens sollte die stillen Herolde der Ausrufung des Endes des globalen Nuklearzeitalters – so sehr man sich dies auch wünschen mag – eines Besseren belehren.
Auf der Energielandkarte des Nahen- und Mittleren Ostens werden sich Veränderungen abzeichnen. Die Endlichkeit fossiler Ressourcen wird langfristig strategische Veränderungen notwendig machen. Im Lichte des Pariser Klimaabkommens stehen Erneuerbare Energien zwar hoch im Kurs, deren Ausbau steckt aber weiterhin in den sehr kleinen Kinderschuhen. Kernkraft ist aktuell zwischen der Türkei und dem Golf wieder en vogue. Jahrzehntelang verlief die Debatte über die zivile Nutzung von Atomenergie zwischen Kairo und Riad politisch folgenlos. Mit den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi-Arabien, Ägypten, Jordanien und der Türkei hat nun aber gleich mehrere Staaten der Region ein nuklearer Goldrausch erfasst. Diese Staaten verfolgen zwar seit längerem zivile nukleare Pläne, das Abkommen mit Iran vor genau einem Jahr hat aber eine neue Dynamik entfacht. Die Einigung nach über zehn Jahren Verhandlungen mit dem Iran soll den friedlichen Charakter des iranischen Atomprogramms garantieren. Dieses Ziel scheint zwar mit dem historischen Abkommen bisher erreicht. Kehrseite der Medaille ist aber, dass der Nukleardeal den prestigeträchtigen Konkurrenzkampf um Atomenergie in der Region befeuert.
Bereits im kommenden Jahr werden die Emirate das erste arabische Land sein, das einen Atomreaktor errichtet. Der erste von vier Reaktoren ist bereits zu 88 Prozent fertiggestellt. Im Jahr 2020 soll Atomenergie ein Viertel zur Elektrizitätserzeugung beisteuern. Der erste saudi-arabische Reaktor soll 2022 ans Netz gehen. Fünfzehn weitere Reaktoren sollen bis ins Jahr 2032 folgen. Auch Jordanien plant weiter die Nutzung von Atomenergie. Die sehr ambitionierten Pläne Jordaniens haben zum Ziel, bis 2025 zwei Reaktoren fertigzustellen, die bis 2030 die Hälfte des jordanischen Elektrizitätsbedarfs decken. Der Vertragsabschluss mit dem staatseigenen russischen Konzern Rosatom vor zwei Jahren sowie  der Abschluss eines bilateralen Kooperationsvertrages zwischen Russland und Jordanien im vergangenen Jahr hat Bewegung in die Entwicklung gebracht. Ein Forschungsreaktor soll in zwei Monaten in Betrieb genommen werde. An ihm soll nicht nur der Nachwuchs der jordanischen Atom-Elite ausgebildet werden, sondern Fachkräfte für die ganze Region. Mit Ägypten hat auch das bevölkerungsreichste Land der Region einen Deal mit Rosatom über die Errichtung von vier Reaktoren geschlossen. Der erste Reaktor soll ebenfalls bis 2022 fertiggestellt werden. Das 25 Milliarden US-Dollar schwere Prestigeprojekt von Präsident Sissi soll durch einen langfristigen russischen Kredit finanziert werden und Abhilfe für das unter chronischen Energieversorgungsengpässen leidende Ägypten bringen.
Die Motive in den verschiedenen Ländern sind vielschichtig und variieren von Land zu Land. Neben dem Wunsch der Regierungen, den explodierenden Energiekonsum zu bedienen, wird offiziell ebenso der Wille nach Diversifizierung des Energiemixes angeführt. Jährliche Wachstumsraten des Energiebedarfs von sechs bis sieben Prozent und eine einseitige Abhängigkeit von fossilen Energiequellen (regional 95 Prozent) sind zwei strukturelle Probleme der Volkswirtschaften, insbesondere Jordaniens und Ägyptens. Um die Wirtschaft langfristig von den Öl-Einnahmen unabhängig zu machen, verfolgen Saudi-Arabien und die Emirate zunehmend einen Kurs wirtschaftlicher Diversifizierung. Dabei spielen Überlegungen eine Rolle, Öl- und Gasressourcen langfristig lediglich für den Export zu nutzen und den heimischen Energiebedarf mit alternativen Energiequellen zu decken. Atomenergie wird in Regierungsverlautbarungen als emissionsarme, klimafreundliche Form der Energiegewinnung dargestellt. Sie wird häufig als „heimische“ und „erneuerbare“ Energiequelle angesehen, mit der die Ziele der Klimakonferenz aus Paris erreicht werden können – ein Treppenwitz der Geschichte, war es doch Saudi-Arabien, das sich vehement und am Ende vergebens gegen das Pariser Klimaabkommen gestellt hat. Warum anstatt des Ausbaus Erneuerbarer Energien in den sonnen- und windreichen Ländern der Region gerade Nuklearenergie als Alternative aufgegriffen wird, hat andere Gründe.
Atomenergie wird in Regierungsverlautbarungen als emissionsarme, klimafreundliche Form der Energiegewinnung dargestellt. Es handelt sich hierbei weniger um Energie(-politik) als vielmehr um Prestige- und Statusdenken der herrschenden Regime. Die Adressaten sind dabei unterschiedlich. Innenpolitisch werden die kostspieligen Atomvorhaben insbesondere in Ägypten und Jordanien gezielt eingesetzt, um den Rückhalt bei der eigenen Bevölkerung zu stärken. Atomkraft wird als zentrales Zukunftsprojekt für die nationalen Volkswirtschaften angepriesen. Dabei werden diese Projekte, angesichts bestenfalls stagnierender wirtschaftlicher und sozialer Entwicklungen dazu genutzt, die politische Handlungsfähigkeit der Regierungen im Bereich der Energieindustriepolitik zu unterstreichen. Dass die großen Infrastrukturprojekte dabei anfällig für persönliche Bereicherungen sein können, wird nur von wenigen Aktivisten hinter vorgehaltener Hand angesprochen.
Außenpolitisch können die Vorhaben nicht losgelöst von geopolitischen Verschiebungen innerhalb der Region betrachtet werden. Saudi-Arabien und die Vereinigten Arabischen Emirate haben zum Ziel – ebenso wie der geostrategische Kontrahent in Teheran – zukünftig Atomkraft zivil nutzbar zu machen. Wenn es sich dabei auch nicht um eine klassisch militärische Balance-of-Power handelt, dann doch immerhin um eine Balance-of-Prestige. Im Fall Ägyptens wird das Projekt dazu benutzt, insbesondere Washington zu zeigen, dass man offen für neue strategische Partnerschaften auch jenseits der USA ist. Neben Russland wurden auch mit China lange Verhandlungen geführt.
Während Jordanien weiter auf dem Atompfad voranschreitet, gehen kritische Stimmen in Amman davon aus, dass das von Russland finanzierte Projekt letztendlich lediglich als bargaining-chip gegenüber der US-Regierung eingesetzt werden könnte. Durch die enge strategische Bindung an die USA und bei fortbestehender Ablehnung des Nuklearprojekts durch diese bleibt die Hoffnung, dass das jordanische Atomprojekt auf den Sankt-Nimmerleins-Tag verschoben wird. Die Regierung in Amman kann es sich politisch nicht leisten, gegen den Willen Washingtons russisch geförderte Atomkraft auf jordanischem Boden zu betreiben. Sollte Jordanien allerdings, wie sich dies aktuell abzeichnet, bereit sein, auf eigene Urananreicherung zu verzichten und darüber zu einem Vertrag mit den USA kommen, wie dieser bereits mit den Vereinigten Arabischen Emiraten geschlossen wurde, könnte sich das jordanische Atomprogramm schneller entwickeln als von kritischen Zeitgenossen erwartet.
So unterschiedlich die Projekte vorangeschritten sind und sich die Motive der Länder darstellen, so ähnlich sind in allen Fällen die Risiken und die Gemengelage an Problemen. Neben den bekannten ökologischen Problemen und hohen Risikofaktoren – beispielsweise der Kühlung von Atomreaktoren in Jordanien (dem dritt-wasserärmsten Land der Welt) oder der Erstellung eines Reaktors in einem Erdbebengebiet in Ägypten – ergeben sich durch die Nuklearprojekte zusätzliche Probleme. Die Finanzierungsmodelle der Projekte in Jordanien und Ägypten würden beide Länder über Jahrzehnte in neue finanzielle Abhängigkeit gegenüber Moskau führen und die nationalen Budgets stark belasten. Die sicherheitspolitischen Risiken der Projekte liegen in der von Krisen und Konflikten heimgesuchten Region mit seiner volatilen Sicherheitslage klar auf der Hand. Weniger besteht dabei sicherheitspolitisch die Gefahr, dass die Atomprogramme militärisch weiterentwickelt werden, als vielmehr, dass die Reaktoren selbst zu Zielen von Angriffen würden. Eine bereits jetzt spürbare Folge der Atomdebatten in der Region ist, dass, unabhängig von den Erfolgsaussichten der einzelnen Atomprogramme, zentrale gesellschaftliche Debatten über Erneuerbare Energien verschleppt werden. Dadurch werden wichtige gesetzliche Rahmenbedingungen für den Ausbau Erneuerbarer Energien nicht geschaffen und notwendige Finanzanreize für Investoren in nachhaltige Energieprojekte unterbleiben.
Die sicherheitspolitischen Risiken der Projekte liegen in der von Krisen und Konflikten heimgesuchten Region mit seiner volatilen Sicherheitslage klar auf der Hand.
In Anbetracht der nicht vorhandenen politischen Debatte in den Ländern über diese zentralen Risiken der Projekte scheint der kritische Erfahrungsaustausch mit anderen Ländern umso wichtiger. Insbesondere die Erfahrungen mit dem Atomausstieg und der Energiewende müssen in der Region im bilateralen Austausch politisch stärker dazu genutzt werden, um aus „verrückten und unverantwortlichen“ Ideen, um mit den Worten der Bundesumweltministerin zu sprechen, keine „verrückten und unverantwortlichen“ Realitäten in unmittelbarer Nachbarschaft Europas mit unabsehbaren Folgen für die Region entstehen zu lassen.

Aus: IPG. Internationale Politik und Gesellschaft, 01.08.2016. Übernahme mit freundlicher Genehmigung der Redaktion.