19. Jahrgang | Nummer 20 | 26. September 2016

Schwarz über die Zonengrenze

von Jürgen Brauerhoch

Frühsommer 1948. Deutschland ist seit drei Jahren geteilt, mitten durch das Land – was sich heute viele nicht mehr vorstellen können – trennt ein „Eiserner Vorhang“ Ost von West, also die so genannte freie Welt vom „kommunistischen System“ auf der anderen Seite. Noch gilt in den „Westzonen“ wie in der „Ostzone“ das gleiche inzwischen fast wertlose Geld, die Reichsmark. Aber in Wirklichkeit regieren die „Zigarettenwährung“ und die Tauschwirtschaft: Gibst Du mir dies, geb ich Dir das.
Hüben wie drüben wispern die Menschen von einer bevorstehenden Reform dieser Währung, von neuem Geld, mit dem man endlich wieder etwas kaufen kann. Meine Mutter, auf dem „letzten Drücker“ im Schwäbischen unterwegs, um noch Ware für ihr Geschäft in Gera zu ergattern, signalisiert, dass sie dringend Geld braucht. Aber es gibt keine Geldüberweisungen und keinen Reiseverkehr zwischen den beiden Hälften des geschundenen Landes.
In dieser Situation schickt meine Schwester mich mit meinen gerade mal sechzehn Jahren auf ein regelrechtes „Himmelfahrtskommando“: Schwarz über die von den Besatzungstruppen bewachte Zonengrenze der Mutter Geld zu bringen… ein ausgesprochen gefährliches Unternehmen! Ich schwankte zwischen Angst und Abenteuerlust und mache mich schließlich mit eingenähten, einigen tausend „Reichsmark“ auf den Weg nach Westdeutschland in die amerikanische Besatzungszone.
Die Grenze der sowjetischen Besatzungszone verlief genau auf dem Kamm des Thüringer Waldes und wurde von den Russen hüben, von den „Amis“ drüben wie ein kostbares Eigentum scharf bewacht. Schon nämlich trauten sich die Sieger von 1945 nicht mehr über den Weg und schotteten ihren jeweiligen Machtbereich hermetisch ab. Wer beim Übergang ohne Genehmigung erwischt wurde, hatte mit Gefängnis zu rechnen.
Ob ich mir der Gefahren im Zug nach Saalfeld so recht bewusst war, weiß ich nicht mehr, aber furchtbar aufgeregt war ich, als ein „Führer“, der mich auf den geheimen Weg über die Grenze begleiten sollte, am vereinbarten Treffpunkt nicht eintraf! Ob er inzwischen Opfer seiner Schleppertätigkeit geworden war? Die Minuten verrannen, der Zug zur Endstation der Ostzone stand abfahrbereit, jetzt gab es nur noch eines: Trotz allem allein weiterfahren… oder aufgeben! Doch was würden die Mutter, die aufs Geld wartete, und die Schwester, die es sorgsam eingenäht hatte, dazu sagen? Sollte man etwa als Feigling dastehen? Also sprang ich im letzten Moment ins Abteil, misstrauisch die Mitreisenden beobachtend, die nicht alle so aussahen, als ob sie nur nachhause wollten.
Heute, wenn der Intercity ohne Halt durch Probstzella rauscht, denke ich manches Mal daran, welch „Schreckgespenst“ dieser Bahnhof bis zur Wende war, welche Tragödien sich hier abgespielt haben, wenn „Schwarzgänger“ von der Polizei entdeckt und entweder gleich ins Gefängnis oder angeblich sogar nach Sibirien abgeschoben wurden. Mir gelang es, innerlich zitternd, die Postenkette am Bahnsteig zu passieren, was wohl meiner Jugend und der ziemlich abgerissenen Kleidung zu verdanken war.
Keinesfalls durfte ich nun in die verbotene Richtung, also gen Zonengrenze gehen. Zum Glück fiel mir von einem früheren Ausflug in den Thüringer Wald ein Seitental ein, parallel zu dieser damals noch nicht mit Wachttürmen und einem „Todesstreifen“ gesicherten Grenze verlaufend, und dass die Straße zwischen den kleinen Dörfern an manchen Stellen den dichten Wald, der sich zur Grenze hinaufzog, berührte. Wenn man hier, scheinbar absichtslos entlangschlendernd, sich mit einem Sprung ins Dickicht „abseilen“ konnte, musste es möglich sein, „direttissima“ die Forstwege kreuzend und senkrecht aufsteigend den Kamm und damit die Grenze zu erreichen.
Bibbernd sprang ich von der Landstraße und begann diesen steilen Aufstieg. Mehrfach musste ich Serpentinenwege kreuzen. Ich robbte mich mühsam heran, sicherte nach rechts und links und lief schnell wieder in den Wald, wenn nichts und niemand zu sehen war. Umso mehr erschrak ich, als ich in der Biegung eines Weges, kurz vor dem Ziel, eine russische Militärpatrouille direkt auf mich zukommen sah! Das Herz schlug mir bis zum Halse, ich ließ mich zurückfallen ins Unterholz und wurde gottlob nicht entdeckt.
Welches Glücksgefühl, als sich der Wald dann lichtete und zwischen den Baumstämmen die Burg Lauenstein hindurchschimmerte, das sehnlich erhoffte Etappenziel! Hier wurde ich erwartet, hier lockten Brotzeit und Quartier, und es kam mir tatsächlich vor, als beträte ich eine völlig andere Welt, als ich mich der Burg näherte. Auf den Wiesen brachten Bäuerinnen gerade die Heuernte ein, sie riefen mir „Grüß Gott“ zu und verströmten die Idylle des ewigen Friedens und der Natur.
Damals kannte ich die Sechste von Beethoven noch nicht, heute muss ich beim ersten Satz der Pastorale an diesen Nachmittag denken. Ich war so selig wie Beethoven, als er die „heiteren Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande“ komponierte. Eigentlich hätte ich in dieser Nacht im kariert-voluminösen Burgherrenbett nicht gut schlafen dürfen; denn noch nicht einmal die Hälfte der riskanten Reise war geschafft. Doch gestärkt von einem üppigen „Friedensfrühstück“, serviert vom von einem offenherzigen Burgfräulein, ging ich guten Mutes zum Bahnhof von Ludwigstadt, dem „Kopfbahnhof“ auf amerikanischer Seite. Man hatte mich gewarnt, dass die Amis alle Passanten vor der Abfahrt kontrollieren und tatsächlich standen ein paar schlaksige GIs am Bahnhofseingang. Zum Glück nahmen sie mich nicht für voll und ließen mich zum Bahnsteig durch.
Zug fahren war zu dieser Zeit auf beiden Seiten im besetzten Deutschland mehr oder weniger Glückssache. Im Osten hatten die Russen bereits die Hälfte aller Bahnstrecken von zwei- auf eingleisig demontiert, im Westen fehlte es an Lokomotiven und Waggons, die einfach zu lange für Goebbels „Räder müssen rollen für den Sieg“ unterwegs und zum Schluss von den gefürchteten Jagdbombern dezimiert worden waren. So musste man froh sein, notfalls in einem Güterwagen ans Ziel zu kommen. Mein Zug fuhr nur bis Bamberg, hier gab es noch eine Fahrgelegenheit nach Würzburg, dann war für diesen Tag endgültig Schluss.
Die Nacht in Würzburg werde ich nie vergessen. Erst kauerte ich mit vielen anderen „Schiffbrüchigen“ an der Bahnhofsmauer, dann wollte ich mich etwas bewegen und ging in Richtung Stadt. Doch Würzburg gab es nicht mehr! Die alliierten Bomberflotten hatten es im wahrsten Sinne des Wortes ausgerottet. Ich lief stundenlang auf kleinen Pfaden über endlose Trümmerberge, und noch immer lag ein gewisser Brandgeruch in der Luft. Jörg Friedrich hat in seinem Buch über den Bombenkrieg die bewusste Vernichtung wehrloser Zivilisten in die Nähe des Holocaust gerückt, was ihm viele übelnehmen. Damals in der erschütternden Nacht von Würzburg war ich dabei, wie er zu denken.
Frankfurt am nächsten Vormittag begrüßte mich mit Sonnenschein. Nach der Horror-Nacht teilweise im Fahrtwind draußen auf dem Trittbrett war auch dringend Wärme nötig. Mit all dem Geld im Gewande legte ich mich auf eine Bank in den Parkanlagen, ziemlich genau vor dem Gebäude, das später die „Bank deutscher Länder“ werden sollte, und versuchte, aus dem Zähneklappern herauszukommen. Schließlich wollte ich meiner Mutter als furchtloser junger Mann gegenübertreten! So ließ ich mich bewundern, als die Tausender aus Schulter und Ärmeln purzelten wurden und sich als beachtliches Häufchen auf dem Couchtisch versammelten. Noch war die Reichsmark nicht verloren. Doch zwei Wochen später, genau am 20. Juni 1948 , hätte man sie nur noch zum Pfeife anzünden verwenden können. Die Währungsreform brachte nicht nur das neue Geld, sondern auch die endgültige Teilung des Landes bis 1989.
44 lange Jahre!
Bald sind die Menschen, die unter der Teilung gelitten haben, nicht mehr unter uns. Aber auch ohne Zeitzeugen sollte diese existenzbedrohende Zeit der Nation nicht vergessen werden, zumal an einem wie 3. Oktober ziemlich automatisch gefeierten „Tag der deutschen Einheit“.