19. Jahrgang | Nummer 20 | 26. September 2016

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Wutvolk nebst Stinkefinger, eine Gletscherspalte mit Granitschleife sowie eine apokalyptische Bibelei…

*

Er gehört als feinsinnig ironischer Poet, als wortmächtig gewitzter Dramatiker zu den unerschrocken kritischen, gefeierten und von oben privilegierten wie gedemütigten großen Köpfen der DDR. Aber auch im wieder vereinten Deutschland, dem er von Anfang an skeptisch gegenüber stand, wird Volker Braun, der unermüdlich von einem demokratischen Sozialismus träumt (oder einer reformierten DDR nachtrauert), bewundert und verehrt. Und er bekam zahlreiche Preise in Ost wie West. Jetzt trat der aus Dresden stammende Berliner, Jahrgang 1939, mit einem neuen Stück namens „Die Griechen“ hervor, das bereits ein Jahr lang in der Schublade schmorte. Nach kräftiger Bearbeitung (und Kürzung auf 90 Minuten) kam es nun endlich auf der Probebühne des Berliner Ensembles zur Uraufführung unter Regie des alten BE-Kämpen Manfred Karge, der einst im Gegensatz zu Braun in den Westen türmte.
Es geht, der Titel deutet es an, um die Euro-Krise, um die Griechenland-„Rettung“ für die EU, also um Politik, um Kritik an der Postdemokratie („Gewirre, wo kein Faden greifbar“) und, natürlich, um Kritik am Kapitalismus. All das ist verpackt und verwoben mit den sprachlichen Mitteln (und Gedanken) der antiken Tragödie. Also ein Mythen-Boulevard – von weit, weit fern grüßen der frühe Braun selbst sowie Botho Strauß und Peter Hacks. Obendrein ist die Chose heftig durchmischt mit Satire, Kabarett und Kalauern. Klingt prima, bleibt aber weitgehend eine arg verkopfte Veranstaltung, obgleich diverse Antiken-Kenner aus den gebildeten Ständen ein raffiniert politisches Denkstück wahrnahmen.
Im ersten Teil geht es um Präsident Papandreou (Joachim Nimtz) und den gewünschten Euro-Schuldenschnitt gegen nationale Radikalreformen – beides fiel bekanntermaßen aus. Doch immerhin, die Reformlosigkeit besänftigte das schäumende Griechenvolk – hier: die energisch ihre auf Pump finanzierten Arbeitsplätze verteidigenden Athener Putzfrauen in knallroten Gummihandschuhen mit Swetlana Schönfeld vornweg. Das gleiche Spiel später in Teil zwei, diesmal mit Stinkefinger und Motorradhelm Varoufakis an der Spitze (Felix Tittel). Zwei läppische Helden Griechenlands im populistisch-manipulativen Gerangel mit ihrem Wutbürger-Volk. Das elende Ergebnis ist weltberüchtigt. Zu weiterführenden Einsichten kommt der Autor eher nicht. Viel Wortgeklingel nebst zynischen Späßchen und gelegentlichem Sirtaki-Getanze, aber mit einem zutiefst pessimistischen Finale: Die Mächtigen sind so unfähig, gierig und dämlich wie das Volk ungezogen, gierig und doof ist. Das alte ewige Dilemma also. Nichts Neues; Punkt.
Inszeniert ist die traurige, in Maßen komische und meist alberne Veranstaltung als Wortoper (an Klavier und Trommel Tobias Schwenke) mit zehn gut trainierten Spielern und 16 harten Stühlen plus dem grotesken Trio der genannten Protagonisten. Die Dramaturgie schreibt erklärend: „Das Spiel über Sinn und Unsinn der Demokratie ereignet sich dort, wo es vor 3000 Jahren erfunden wurde, im klassischen Griechenland. Hier hat es begonnen, wird es hier enden?“ – Der resignierte Autor als Kassandra verkleidet ruft „Ja!“, Europa wird untergehen. Wir werden sehen…

*

In Basel haben nicht nur höchst profitable und kreative Pillendreher, genannt Pharmakonzerne, ihren Sitz (quasi als Abfallprodukt wurde hier die Droge LSD entdeckt). Basel ist auch ein Zentrum der neuen (und etwas älteren) Kunst sowie Zentrale des millionenschweren Handels mit ihr. Und noch eins: Das kalvinistische Städtchen im weltoffenen Dreiländereck gilt als Pilgerstätte für Freunde avantgardistischer Museumsarchitektur. Die für mich schönste, nun schon nicht mehr ganz taufrische, beherbergt leicht und luftig in liebliche Natur gebettet die Fondation Beyerle.
Gänzlich frisch aber, nämlich erst vier Monate alt, ist der in schnellen dreieinhalb Jahren für 92 Millionen Franken direkt gegenüber dem trutzigen Hauptbau aus dem Jahr 1936 hoch gezogene Neubau des Kunstmuseums. Ein erhabener Klotz in Grau; graue dänische Wasserstrichziegel, weiß der Fachmann. Das örtliche Architektenbüro Christ & Gantenbein erklärt: „Wir verfügen über ein Oeuvre in Grautönen.“
Das ist so großartig wie beklemmend. Sonderlich das monumentale Treppenhaus, eisengrau verputzt, Böden, Brüstungen und die schier endlos himmelwärts in ein Oberlicht stürmenden Stufen sind – aha! – aus steingrauem Bardiglio-Nuvolato-Marmor. Wahrlich, eine Fantasie in grau. Eine Gletscherspalte inmitten des gewaltig grauen Kubus aus Wasserstrichziegeln. Eine optische Überwältigung. Auch eine psychische und sogar physische (aber es gibt, gut versteckt, Aufzüge). Eine Bizarrerie. Große kalte Oper in Marmorgrau. Die edelweiß gepinselten Hallen im Keller und auf den Etagen drüber bieten kostbar weite Flächen für die luxuriöse Präsentation der Kunstwerke (Industrieparkett Eiche) und sind ganz brav rechtwinklig. 2740 Quadratmeter.
Unter all den Preziosen der zumeist weltberühmten Hersteller von Avantgarde: Max Bills „Unendliche Schleife, Version IV“ von 1960/61. Ein Band aus hellgrauem, dunkelgrau gesprenkeltem Granit ohne Nahtstelle und Bruch, ohne Anfang und Ende (wie hat Max das bloß gemacht?). Man sagt, es entspräche der Figur des Möbius-Bandes, das 1858 vom Leipziger Astronom und Mathematiker August Ferdinand Möbius beschrieben wurde. Tolles Ding! Simpel und philosophisch zugleich. Ein frappierendes Spielchen. Mein absolutes Lieblingskunstwerk in dieser mit den seltsamsten, teils albernen und platten Dingelchen der neuen teuren Kunst gefüllten Marmor- und Ziegel-Hülle total in Grau.

*

22 Kapitel in der Luther-Bibel voll metaphysischen Horrors: Der blutig sich austobende Mensch, unfähig zu Einsicht, Buße, Gottesfurcht, müsse unterm Triumph-Täteretä der Engelstrompeten verfeuert werden in der Hölle. Die bedingungslose Zurücknahme des verpfuschten Menschengeschlechts, Vernichtung, Weltuntergang – das verlange der Zorn Gottes. So steht es, mit starken Worten verlautbart, in der Offenbarung des Johannes. Die „Apokalypse“, ein grauenvoller Warn-, Einschüchterungs- und Angstmachetext.
Man muss dieses infernalisch dröhnende „Wehe, wehe!“ nicht aufsagen lassen als zweistündigen Monolog für einen wortgewaltigen, akrobatisch versierten Schauspieler, selbst wenn man über einen so grandiosen wie Wolfram Koch verfügt, der da in der Volksbühne Berlin den sarkastisch-ironischen Clown gibt, dann wieder den gruseligen Donnerwetter-Gott. Die Hass- und Schimpforgie wird auch dadurch nicht spannender, wenn Koch im gelb glänzenden Latex-Anzug oder buntkarierten Komikerdress (gutgesichert) im leeren, mal rot, mal blau illuminierten, viele Meter hohen Bühnenhimmel rauf und runter schwebt, über die Stufen einer riesigen Revuetreppe rast oder auf der Vorbühne hin und her tobt. Lauter Mätzchen, die alsbald langweilen, weil die ganze hysterische Turbo-Veranstaltung unter der einfallsarmen Regie von Herbert Fritsch, dem neu ausgerufenen Superstar der Branche, fleißig auf der Stelle trampelt.
Doch weil der mediale Hype mit der letzten Spielzeit des Intendanten Frank Castorf und dem bevorstehenden Antritt seines Nachfolgers Chris Dercon nichts weniger als die Apokalypse der Volksbühne einläutet, soll man, so wehklagt viel Feuilleton, die apokalyptische Bibelei zumindest als Ansage eines bevorstehenden partiellen Weltuntergangs deuten. – Für jene, die noch nicht kapiert haben, was da fast tout Theater-Berlin in Untergangsstimmung versetzt: Es ist der aus konservativer Sicht apokalyptische Reiter Dercon (gegenwärtig Chefkurator der Londoner Tate Modern) mit seinem Vorhaben, die nach allgemeiner Ansicht weltberühmte Volksbühne ab dem 21. August 2017 umzumodeln in einen Tummelplatz für Tanz, Performance, Film, Musiktheater, Bildende Kunst nebst den Kulturen des Digitalen sowie obendrein noch Sprechtheater, was man mehrheitlich und letztlich nicht ganz zu Unrecht für den ruhmlosen Abstieg in globale Beliebigkeit hält. – Wir Minderheiten warten mal ab und trinken Tee…