19. Jahrgang | Nummer 19 | 12. September 2016

Querbeet

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein kostbares Materiallager aus der Kreidezeit, vier erotische Totenwächter und Wallenstein im Endzeitbunker …

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Frühherbstlicher Ausflug in zwei winzige Ex-Fürstentümer: Nach Lippe-Schaumburg in Niedersachsen und Lippe-Detmold in NRW. Und wer da wie wir neugierig ist auf ein kleines feines Stück romantisches Traumdeutschland etwas abseits der massentouristischen Highways, der sollte aufbrechen in diese Gegend. Es ist die mit der „Weser-Renaissance“. Mit (Wasser-)Schlössern an jeder Ecke und Fachwerk-Städtchen wie Stadthagen, Bückeburg, Obernkirchen, Lemgo, Rinteln oder Detmold. Also: Statt in einem fort immerzu Ob-der-Tauber-Rothenburg-Neuschwanstein-Heidelberg endlich die Lippe-Ländchen entdecken! Denn die Schaumburgerei, das ist Deutschland in der Nussschale. Nur: ohne Warteschlangen vor den Sehenswürdigkeiten.
Zwei davon, ganz unterschiedlich und wenig beachtet, seien hier entzückt verbucht. Die eine in sozusagen kammermusikalischer Hügel-Landschaft gebettet ist ein Steinbruch nahe dem Nest Obernkirchen, Landkreis Schaumburg. Sein Fast-Alleinstellungsmerkmal: Der Bruch ist seit mehr als tausend Jahren in Betrieb und liefert noch heute einen Stein aus feinstem Quarzsand in weißlich-grau bis hin zu „sonnig gelb leuchtend“. Ein idyllisches, von Wald umstelltes kostbares Materiallager aus der Kreidezeit, um das sich Architekten aus aller Welt noch immer reißen. – Im Kölner Dom, im Rathaus Antwerpen (1566), im Petersburger Zarenpalast (1751), im Weißen Haus Washington D.C. (1792), in der Berliner Siegessäule (1873) oder in Wolkenkratzern und sonstigen Avantgarde-Architekturen in ganz Europa und sogar Übersee steckt Oberkirchner Stein. Wer hätte das vermutet. Und beim Spazieren durch alte, längst still gelegte Abbruchstellen findet man in ihren Überbleibseln mit geschärftem Blick und bisschen Glück fossile Abdrücke von Sauriern sowie anderen Ur-Gewächsen aus dem Tertiär.
Eine weitere, gleichfalls versteckte Sensation ist das Mausoleum des Fürsten Ernst von Holstein-Schaumburg in Stadthagen. Im 24 Meter hohen, siebeneckigen, enorm lichtdurchfluteten, festlich-eleganten Renaissance-Bau, der Stadtkirche St. Martin direkt angeschlossen, thront das Bronzemonument des Bildhauers Adriaen de Fries (1556-1626), einst Hofbildhauer Rudolf II. Der Mann gilt einem Michelangelo als gleichrangig, ist nur nicht ganz so berühmt wie der – warum eigentlich? Das tollkühne, feine und frohe Denkmal zeigt einen Sarkophag mit sportlich gereckter Christusfigur, himmelwärts triumphierend, die Fahne der Auferstehung schwenkend, derweil ihr zu Füßen vier als antike Krieger verkleidete Grabwächter hocken, bis auf einen tief schlafend. Der Witz: Alle Figuren wirken nicht nur höchst lebendig, sondern – olala! – auch noch unglaublich erotisch, womit dieses Totengedenken zu einer sympathisch lustvollen, spielerischen Feier eines unendlichen Lebens wird – über das Sterben hinaus. Sinnliche Prachtentfaltung und transzendente Meditation in inniger Verschmelzung. Ein philosophisch gewürztes Fest der Schönheit in Ewigkeit. Amen.

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Berlin: Schau-Bühne wie Zuschauersaal sind ein von Rauch durchzogener Riesenbunker. Ein einziges Nacht- und Nebelloch. Ein vergittertes Gefängnis. Ein schwarzer Endzeitbunker. Und alles beginnt aus dem Off mit gefährlichem Krachen, Detonationen, mit ab- und anschwellendem Dröhnen, als kreisten Kampfhubschrauber überm Saal (Szene: Olaf Altmann; Ton: Bert Wrede). Es ist die unheimliche, bedrohliche, gewaltbeladene Atmosphäre des Krieges. Sie beherrscht vom ersten bis zum letzten Moment die „Wallenstein“-Inszenierung von Michael Thalheimer in der Schaubühne am Lehniner Platz.
Thalheimer ist unser unvergleichlicher Meister im Verdichten, im Zusammenballen und Überlebensgroß-Machen: Es gibt da die suggestive Grundstimmung, die die ganze Aufführung beherrscht, und es gibt den aufs Essentielle komprimierten Text, der sich durch signifikante Gestik und starke Rhetorik der Schauspieler ins Monumentale steigert. – Und so dauert dieser „Wallenstein“ nur drei Stunden. Doch die haben’s in sich …
Wir erinnern uns: Einst inszenierte Peter Stein alle elf Akte in rund zehn Stunden, historisch korrekt kostümiert, mit Klaus Maria Brandauer in der Titelrolle in einer Berliner  Brauerei. Jetzt ist von Friedrich Schillers Dreiteiler, an dem er ein Jahrzehnt lang so ungestüm wie ausdauernd verzweifelt schrieb und der 1798/1799 in Weimar uraufgeführt wurde, das Vorspiel „Wallensteins Lager“, das die tumultarischen Exzesse der Soldateska im Dreißigjährigen Krieg ausmalt, schnurstracks gestrichen – bis auf den Qualm und das Dröhnen als Ouvertüre. Thalheimer konzentriert sich auf „Die Piccolomini“ und „Wallensteins Tod“. Trotzdem: Das politisch-militärische Macht- und Intrigenspiel wird stringent durchgespielt. Wir sehen einen quasi in Agonie erstarrten Wallenstein, der sich als Feldherr auf nichts mehr verlassen kann; nicht auf seine Familie, seine Generäle, nicht auf seinen Kaiser, nicht auf die Schweden und schon gar nicht auf seine Macht und seinen fatalen Glauben an die Gunst der Sterne.
Das verworrene Drama des vielseitigen Bruchs von Treue und des Verlusts von Gewissheiten, das wird zwar geschickt und keck verknappt, aber dennoch exakt durchexerziert. Doch das eigentliche Interesse der Regie liegt ganz offensichtlich nicht beim Ausmalen des so wirren wie verzweifelten Hin und Hers der Interessen und Bündnisse, sondern bei der schier überwältigenden Imagination des Kriegs als dem Vater allen Grauens, dem sich die Menschheit seit Urgedenken so befremdlich lustvoll hingibt. „Dem bösen Geist gehört die Erde, aus Gemeinheit ist der Mensch gemacht.“ Dieser schlimme wahrhaftige Satz gibt gleichsam das Motto für Thalheimers kühne Reduktion. Eine überaus starke, auch stark zeitgenössische Setzung. Sie gibt der kunstvoll ins Abstrakt-Expressive gesteigerten Inszenierung ihre enorm zupackende, überzeugende Kraft.
Und die gibt es nicht ohne starke Spieler, die, blutverschmiert und im nebligen Hintergrund ihrer Auftritte stets harrend, dann jeweils an die Rampe stürzen und frontal ihren Text ins Publikum schleudern. Gerade darin, in diesem sturen Formalismus, liegt ein (heutzutage selten gewordener) Vorzug dieser Inszenierung: Die Fokussierung auf die einzigartige Wucht des Worts. Auf Schillers „dramatisches Gedicht“.
In dessen Mittelpunkt: Ingo Hülsmann als Wallenstein, als zumindest äußerlich total desolat-aristokratischer Generalissimus; die Orden klimpern, die lädierte Uniform schlottert um seinen freilich immer noch sehnigen Leib. Er hockt lange Zeit wie ein verunsicherter Hamlet – grübelnd über die ihm immer irrer werdenden Zeitläufte – in seinem Stuhl. Was wäre da wohl zu tun, um endlich Frieden zu schaffen (aber: mit Waffen!)? Um endlich nach der Krone und womöglich nach der Macht in Europa greifen zu können. Und dennoch: Innerlich ist er ein längst abgewrackter, vom bösen Geist der Welt und von der Gemeinheit der Menschen angewiderter, schwer melancholischer Feldherr, dessen einstiger Ruhm verblasst ist und der ihm kaum noch was bedeutet. Doch unversehens explodiert dieser „phantastische Geist“ – so Goethe über diese schwer ambivalente, wohl traumatisierte und hier zutiefst zweiflerische Schiller-Figur. Ein Geist, der vom Idealischen träumt und ins Verbrecherische treibt. Was für ein Wahn, was für ein Irrsinn. Beides macht schließlich sich Luft durch von Hellsicht und Verzweiflung geprägte Raserei. Ein geradezu irr gebrochener, tragischer Held; freilich völlig frei von probat tragischen Posen. Begreift er doch nur allzu genau das verhängnisvolle Auseinanderfallen von Plan und Praxis, Pflicht und Recht, Neigung und Sachzwang – und damit seinen Untergang. Er schaut – unglaublich! – entsetzlich klaren Kopfes in den entsetzlichen Abgrund, dem er sich mit letzten Kräften überlebenskrampfig entgegenstemmt. In dem er aber dennoch, was er längst ahnt, umkommen wird zum mörderischen Schluss. Hülsmann entrollt die Anatomie eines fürchterlichen Endspiels. Großartig. Grässlich. Als alles vorbei ist, weht leise langsam kühler Regen über stille Düsternis in fahlem Licht. Was für ein Bild. Ein Menetekel, allzeit gültig.