von Mathias Iven
„Wohin führt Ihr Weg?“ „Immer nach Hause.“ – Die an Hermann Hesse gerichtete Frage und die zum Buchtitel gewordene Antwort bilden den Schlüssel zum Verständnis von Thomas Langs Roman. Der bei Novalis entlehnte Wortwechsel umschreibt dabei weniger eine räumliche als eine innerliche Bewegung. Lang geht es um die Darstellung von Hesses lebenslanger Suche nach sich selbst und seinem Platz im Leben.
Gaienhofen im Jahre 1907. Vor drei Jahren ist Hermann Hesse mit seiner Frau, der aus Basel stammenden Photographin Maria Bernoulli, an den Bodensee gezogen. Im August 1904 hatten die beiden geheiratet, im Jahr darauf kam ihr erster Sohn Bruno zur Welt. Ihre Ehe verläuft nicht spannungsfrei. „Der kleine Hass unter Paaren beherrscht sie beide.“ Hesse, „ein Wanderer, der immer an den besseren Ort gelangen will und niemals dort ankommt“, der es nicht schafft, „seinen Traum von der Ungebundenheit und Bedürfnislosigkeit“ zu leben, will den alltäglichen Sorgen entfliehen. Sie halten ihn von der Arbeit ab und belasten seine Gesundheit. Er hat Probleme mit der Ernährung. Eine Kur in Locarno soll Abhilfe schaffen. Der Erfolg bleibt aus. Einer Empfehlung folgend, macht er sich auf den Weg zur „Aussteigerkolonie“ auf dem Monte Verità. Doch auch dort wird er nicht finden, was er eigentlich sucht. Immer wieder muss er an die Familie denken. In wenigen Monaten soll er mit Frau und Sohn in das eigene Haus einziehen. Die Bauarbeiten und der Umzug bedeuten „Unordnung, die er nicht gut erträgt“. Hesse fühlt, „dass er zum Hausbesitzer ebenso wenig Talent hat wie zum Ehemann“.
Als er vom „Berg der Wahrheit“ nach Gaienhofen zurückkehrt, „fühlt er sich, als müsste er eine Haftstrafe antreten“. Er kehrt heim in ein Leben, das nicht mehr sein Leben ist. Das neue Haus ist fast fertig – doch das kann nicht alles sein. Hesse steht auf der Baustelle, und er bekommt Angst. Es ist der Entwurf seiner Frau, der da vor ihm steht, „ihr Leben“. Hesse „will etwas ganz anderes. Er sieht sich Feuer an die Balken legen.“ Gefangen „in einem Totenhaus“ hofft er vergeblich auf Erlösung. –
Szenenwechsel. Der zweite Teil von Langs Roman spielt im Jahre 1918. Die mittlerweile fünfköpfige Familie Hesse (1909 und 1911 wurden die Söhne Heiner und Martin geboren) lebt seit sechs Jahren im Berner Melchenbühlweg, im Haus des verstorbenen Malers Albert Welti. Nach bald vierzehn Ehejahren wird Hesse nur noch von einem Gedanken beherrscht: sein familiäres „Halbleben“ muss ein Ende haben. All das ihn seit langer Zeit Bewegende verarbeitet er in seinem neuen Roman. Dabei geht es im „Demian“ „weniger um Rebellion als um Erkenntnis, und weniger um Erkenntnis als um Heilung“. Hesse „möchte eigentlich neu geboren werden“, doch „dazu muss der Alte sterben in einem geistigen Sinn“.
Am 7. August 1918, es ist der 50. Geburtstag seiner Frau, wirft Hesse einen Blick zurück in die gemeinsame Vergangenheit. Mit seinen Reisen, seinen kleinen Fluchten ließ sich nur „notdürftig überdecken, was ihre Wahrheit ist: Sie haben die Liebe verloren.“ Hesses Gedanken gehen in die Ferne, in den Süden. „Da liegt Italien, da liegt der Tessin. Da liegt der Sommer, die Sehnsucht, die Zuflucht. Da würde er nur noch dem Schreiben leben.“
Wem die gängigen Biographien zu „trocken“ sind, dem sei dieses Buch nachdrücklich empfohlen. Thomas Lang, 2005 mit dem Ingeborg Bachmann-Preis ausgezeichnet, ist vor allem in der Gestaltung der Dialoge stark. Sei es das Gespräch mit dem Lebensreformer Gusto Gräser, die Diskussion zwischen Hesse und Richard Woltereck, seinem Mitstreiter in der Berner Bücherzentrale für deutsche Kriegsgefangene, oder auch die Unterhaltung mit dem Psychoanalytiker Josef Bernhard Lang – sofort fühlt sich der Leser als heimlicher Zuhörer in das Geschehen hineingezogen.
Thomas Lang: Immer nach Hause, Berlin Verlag, Berlin 2016, 384 Seiten, 20,00 Euro.
Schlagwörter: Hermann Hesse, Mathias Iven, Thomas Lang