19. Jahrgang | Nummer 18 | 29. August 2016

„Eichmann in Jerusalem“

von Hannes Herbst

Dieses Buch von Hannah Arendt trägt den Untertitel „Ein Bericht von der Banalität des Bösen“. Es erschien erstmals 1963, nachdem die Autorin für das Magazin The New Yorker über den Jerusalemer Eichmann-Prozess im Jahre 1961 berichtet hatte.
Der Rezensent erwarb das Buch bereits vor längerem, nachdem er Teile der 400-stündigen Prozess-Dokumentation gesehen hatte, die von der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem 2011 auf Youtube öffentlich zugänglich gemacht worden waren: In diesem Prozess präsentierte sich Eichmann als personifizierte Jovialität und Harmlosigkeit. Er selbst habe nie einen Juden und auch keinen anderen Menschen getötet.
Tatsächlich war Eichmann als Schreibtischtäter der Transmissionsriemen der industriellen Judenvernichtung – als Teilnehmer der Wannseekonferenz einer der organisatorischen Weichensteller des Massenmords und im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) als Leiter des Referats IV B 4 (Judenangelegenheiten, Räumungsangelegenheiten) zuständig für die fahrplanmäßige Belieferung der Tötungsfabriken, insbesondere der größten in Auschwitz-Birkenau, aus Hitler-Deutschland sowie aus besetzten (wie Frankreich) oder verbündeten (wie Ungarn) Ländern. Und er sorgte dafür, dass diese Aufgabe mit deutscher Gründlichkeit erledigt wurde.
Ein Grund, Arendts Buch gerade jetzt oder immer mal wieder zu lesen, findet sich im Vorwort des Historikers Hans Mommsen: „Der Angeklagte, den man allgemein als den zentralen Vollstrecker der Vernichtung des europäischen Judentums ansah, erwies sich als subalterner Bürokrat, der mit einigen wenigen Ausnahmen keine eigene Initiative entfaltet hatte und dem der diabolische Charakter und ideologische Fanatismus, den man ihm unterstellte, gänzlich abgingen.“
Nach Erscheinen des Buches sah sich die Autorin mit teils scharfer Kritik konfrontiert, in deren Fokus unter anderem ihre Verwendung des Wortes „banal“ im Zusammenhang mit dem Völkermord an den europäischen Juden stand. Für die zweite Auflage verfasste Hannah Arendt deshalb eine Vorrede, in der sie auch auf diesen Vorwurf einging: Die „Banalität des Bösen“ sei „ein Phänomen, das zu übersehen unmöglich war. Eichmann war nicht Jago und nicht Macbeth […]. Außer einer ganz ungewöhnlichen Beflissenheit, alles zu tun, was seinem Fortkommen dienlich sein konnte, hatte er überhaupt keine Motive […].“
Im Buch selbst hatte sie, speziell im Kapitel „Fachmann in der Judenfrage“, ein Psychogramm Eichmanns geliefert, das ihre Auffassung stützte. Wie korrekt sie die Persönlichkeit des Angeklagten erfasste, lässt sich heute anhand der eingangs erwähnten Dokumentation unschwer erkennen.
„Je länger man ihm zuhörte“, analysierte Arendt, „desto klarer wurde einem, daß diese (Eichmanns – H.H.) Unfähigkeit, sich auszudrücken, aufs engste mit einer Unfähigkeit zu denken verknüpft war. Das heißt hier, er war nicht imstande, vom Gesichtspunkt eines anderen Menschen aus sich irgendetwas vorzustellen. Verständigung mit Eichmann war unmöglich, nicht weil er log, sondern weil ihn der denkbar zuverlässigste Schutzwall gegen die Worte und gegen die Gegenwart anderer, und daher gegen die Wirklichkeit selbst umgab: absoluter Mangel an Vorstellungskraft.“
Und an anderer Stelle: „Komisch ist auch Eichmanns heldenhafter Kampf mit der deutschen Sprache, in dem er regelmäßig unterlag […]. Komisch sind auch die endlosen Sätze, die niemand verstehen kann, weil sie ohne alle Syntax Redensart auf Redensart häufen. Als Landau (der Richter im Prozess – H.H.) ihm sagt, daß es so nicht weiterginge, spürte er wohl dunkel einen Defekt, der ihm schon in der Schule zu schaffen gemacht haben muß – wie ein milder Fall von Aphasie –, und entschuldigt sich: ‚Amtssprache ist meine einzige Sprache.‘ Doch die Amtssprache war eben gerade deshalb seine Sprache geworden, weil er von Haus aus unfähig war, einen einzigen Satz zu sagen, der kein Klischee war.“
Für die Prozessführung hatten diese Eigenheiten des Angeklagten ihre Tücken, wie Arendt vermerkte: „Trotz der Bemühungen des Staatsanwalts konnte jeder sehen, daß dieser Mann kein ‚Ungeheuer‘ war, aber es war in der Tat sehr schwierig, sich des Verdachts zu erwehren, daß man es mit einem Hanswurst zu tun hatte. Und da dieser Verdacht das ganze Unternehmen (den Prozess – H.H.) ad absurdum geführt hätte und auch schwer auszuhalten war angesichts der Leiden, die Eichmann und seinesgleichen Millionen von Menschen zugeführt hatten, sind selbst seine tollsten Clownerien kaum zur Kenntnis genommen und fast niemals berichtet worden.“
Fazit: Einer der entscheidenden Organisatoren des Holocausts war ein blasser Bürokrat, ein Jedermann vom Schlage jenes diensteifrigen Phänotyps, den funktionierende Beamtenschaften oder Verwaltungsmaschinerien geradezu voraussetzen. In Zeiten unübersehbarer Rechtstendenzen und zunehmender Fremdenfeindlichkeit hierzulande und vielerorts in EU-Europa sollten Bücher, die derartigen Zusammenhängen nachgehen, Schullektüre in der Abiturstufe sein.
Zwar bescheinigt Mommsen der Autorin sicher nicht zu Unrecht: „Vom Standpunkt des um präzise und umfassende Quellenauswertung bemühten Fachhistorikers ist an […] ‚Eichmann in Jerusalem‘ mancherlei auszusetzen. Eine Reihe von Feststellungen sind nicht hinreichend kritisch überprüft. Einige Schlußfolgerungen verraten eine begrenzte Kenntnis des Anfang der 60er Jahre zur Verfügung stehenden Materials.“ Den bleibenden Gesamteindruck des Berichts schmälern diese Mängel aber mitnichten.

Hannah Arendt: Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, Piper Verlag, München, Zürich 1998, 448 Seiten, 12,99 Euro.