19. Jahrgang | Nummer 16 | 1. August 2016

Über Viktor Orbán.
Im Gespräch mit – Zoltán Varga*

In Ihren Büchern beschäftigen Sie sich mit der Macht und deren Einfluss auf die Persönlichkeit. Wie sind die Machthaber in Ungarn? Zeigen sie etwa landesspezifische Merkmale?
Zoltán Varga: Der verzerrende Einfluss der Macht auf die Persönlichkeit ist allgemein bekannt, er ist umso schwerwiegender, je einfacher die Person gestrickt ist, die sie ausübt. Selbst die Besten können dagegen nur in begrenztem Maße immun sein. Aber solche Persönlichkeiten gibt es Ungarn heutzutage nicht. Politische Führer mit solch’ niedriger Kultur und intellektuellen Fähigkeiten wie bei uns, gibt es in der zivilisierten Welt kaum. Von Haltung und Stil kann schon lange nicht mehr die Rede sein. Für mich wäre es unvorstellbar, dass die englische Königin im Ascot Derby Schalen gerösteter Sonnenblumenkerne auf den Boden spuckt, wie es Viktor Orbán auf der Tribüne eines Fußballstadions tut, oder dass ein Ministerpräsident eines zivilisierten Landes auf die ihm gestellten Fragen fast nie antwortet, dass er seinem Volk wider besseres Wissen immer wieder Unwahrheiten erzählt, dass Abgeordnete der Regierungspartei einen Umgangston pflegen, der an Straßenpalaver von Betrunkenen erinnert.

Warum sind die führenden Politiker Ungarns so?
Varga: Der oberste Führer wählt sie selbst aus. Daher entscheidet Viktor Orbán selbst über Stil, Ton und Benehmen. Immer wieder wird er in gewissen Kreisen als „Politiker mit außergewöhnlichem Talent“ bezeichnet. Wenn man Politik als Wissenschaft von rationaler Erledigung öffentlicher Angelegenheiten versteht, ist unser Ministerpräsident kein Politiker. Als Politiker ist ihm nichts gelungen. Wenn er uns ständig wiederholt: „Die Reformen wirken“, gibt es gar keine Reformen. Während er über Ordnung spricht, sind wir in Ungarn von einem in der Geschichte beispiellosen Chaos umgeben. Er ist mit beinahe allen gesellschaftlichen Schichten des Landes im Klinsch. In den internationalen Foren hat er sich lächerlich gemacht, Ungarn um alles Ansehen gebracht. Die einmalige Chance, die ihm im Jahre 2010 mit der Machtübernahme in den Schoss fiel, hat er offenbar gar nicht wahrgenommen. Der Zusammenhang zwischen den ihm gestellten Fragen und seinen Antworten ist seit längerem abhanden gekommen. Das Niveau seiner öffentlichen Reden hat sich bedenklich verringert. Seine Rede am Nationalfeiertag, am 15.März, war erschreckend wirr. Er nannte die Opposition „Parasiten und Rotten unverbesserlicher Kämpfer für die Menschenrechte, deren Tage ohne Wirtstier gezählt sind“. Möglicherweise hat Orbán keine Ahnung, dass dies die Wortwahl Hitlers war.

In Politikerkreisen herrscht die Meinung, sein Erfolg beruhe auf leicht verständlichen Benimmmustern, die er dem Volk vermittelt, und dadurch wird er selbst zum Spiegelbild seiner Wähler. Bei ihm sind für Misserfolge immer die Umstände schuld, er meidet jeglichen Kompromiss, ignoriert moralische Grenzen. Im vergangenem Jahr noch plumper als zuvor. Passt er sich den Wählern an, oder sie sich an ihn?
Varga: Durch sein Verhalten wurden natürliche Hemmnisse aus dem Wege geräumt. Was früher unvorstellbar war, ist heutzutage Alltag. An die neuen Zustände haben sich zuerst seine Mitstreiter angepasst, später auch wir. Hier zeigt sich, was der Charakter des ersten Mannes ausmacht. Denken Sie daran, was ein Mann aus dem Lande Goethes machen konnte …

Wie weit war voraussehbar, wie der damals sympathische junge Mann später mit der Macht umgehen wird?
Varga: Es war nicht vorhersehbar, damals wusste kein Mensch etwas über einen solchen Jüngling. Selbst Hellseher hätten nur voraussagen können, dass er – wie alle andere vor ihm – von der Macht verdorben werden wird. Ältere Menschen sind vermutlich zusammengezuckt, als dieser unbekümmerte Junge dem sowjetischen Koloss mit seiner Fistelstimme entgegenschleuderte: „Verschwindet!“. Die Sowjetunion hatte zwar schon Risse, trotzdem waren uns Berlin, Budapest, Prag noch lebhaft in Erinnerung, als die Russen auf solche Schreie ganz scharf reagierten. Er aber ging auf die Bühne und schrie mit dem Mut eines Ahnungslosen: „Russki go home!“ Das wird heute als Heldentat gewertet, doch an Ort und Stelle damals war es schlicht Unfug. Viel verrät das um 1989 aufgenommene Video, in dem der junge Viktor Orbán davon erzählt, dass ihn sein Vater geschlagen und getreten hatte. Wissen Sie, Eltern treten ihre Kinder äußerst selten. In vierzig Jahren hatte ich als Psychologe oft mit misshandelten Kindern zu tun, aber keines wurde von seinen Eltern getreten. „Den Alten hasste ich damals sehr“, sagt Viktor Orbán im Video, und lacht. Das ist typisch. Es ist das Lachen eines Menschen, der sich schämt, zu weinen. Diese Erfahrung habe ich bei Männern oft gemacht. Wenn ich ihm jetzt zusehe, wie er zunächst eine strenge Miene, aus Rücksicht auf die Kamera dann aber ein gequältes Lächeln aufsetzt, habe ich Mitleid mit diesem vom Schicksal schwer gebeutelten Mann. Er kann nämlich dem Augenblick nicht ausweichen, wenn die Realität ihm ins Gesicht schreit: „Was hast du mit der Möglichkeit angestellt, die dir im passenden Moment in die Hände fiel?!“

Kann ihm irgendetwas schlaflose Nächte bereiten?
Varga: Er hat große Angst. Wie jeder Despot. Die Macht lässt ihn immer größer werden, indes wissen immer mehr Leute, dass das nur ein Schauspiel ist. Die wichtigen Politiker der westlichen Welt tuscheln hinter seinem Rücken. Im Verborgenen ist das unserem Mann auch bewusst und mit seinem Verhalten bestätigt er das. Er knöpft sein Sakko auf und zu, versucht die Krawatte zu richten, schaut sich immer wieder um. Je nach Situation versucht er, die passende Miene aufzusetzen. Zwischen dem Ehepaar Obama steht er mit einem steifen, aufgesetzten Gesichtsausdruck. Kommissionspräsident Juncker kann sich hin und wieder daneben benehmen, aber er würde Wladimir Putin kaum die Backe tätscheln und ihn dabei mit „Salut Dictateur“ begrüßen. Orbán macht das.

Wie lange kann das gut gehen?
Varga: Es ist zu befürchten, dass er irgendwann einknicken wird, weil er sich an seinen Fähigkeiten gemessen überfordert. Was er tut, ist aus globaler Sicht marginal, für seine Verhältnisse jedoch übermäßig viel. Es wäre wünschenswert, dass die Menschen dies durchschauen.

Bisher gibt es wenig Zeichen, dass viele Ungarn das durchschauen, was Sie so bestimmt behaupten.
Varga: Das kann man von ihnen gar nicht erwarten, denn wer ein solch hohes Amt bekleidet, dem wird automatische Respekt entgegen gebracht. Achten Sie darauf, wie die sogenannten führenden politischen Meinungsmacher lange an seinen wirren Aussagen und Argumenten herumdeuteln, hinter leerem Geschwätz Konzepte vermuten … Nur ein gefallener Riese kann als Zwerg erkannt werden. Dann wird man womöglich in die andere Richtung übertreiben. Im Übrigen haben wir hier im Becken der Karpaten schon immer unter autokratischen Regimen gelebt. Vielleicht ist es gerade Orbán, der unsere Augen öffnet … Es gibt nämlich ein besser funktionierendes Gesellschaftsmodell, das bereits in mehreren Ländern erprobt wurde.

Aber wie kann eine solch totalitäre, sich auf alles erstreckende Macht beendet werden?
Varga: Das Ende kommt bestimmt, aber ich fürchte, es wird nicht friedlich daherkommen. „Orbán hau’ ab!“ kann man nicht brav und artig schreien […]. Dieser Moment kann jederzeit kommen. Die Explosion wird dann durch etwas ausgelöst werden, woran bis dahin niemand gedacht hat. Nach dem Knall wird es jedem klar sein, dass wir haben zeitweilig im Königreich von Sancho Panza gelebt haben.

* – Dr. Zoltán Varga ist ein bekannter ungarischer Psychologe. Er hat bisher unter anderem drei Präsidenten der Ungarischen Notenbank beraten und mehrere Bücher veröffentlicht. Das Gespräch führte die in Budapest erscheinende linksliberale Wochenzeitung Vasárnapi Hirek (Sonntag Aktuell).
Übernahme mit freundlicher Genehmigung der
Chefredakteurin Anna Kertész.
Die Übersetzung stellte S.Back Agentur für ungarische Literatur, Ulm, zur Verfügung.