19. Jahrgang | Sonderausgabe | 11. Juli 2016

Gezeiten des Geistes

von Frank Ufen

Der Amerikaner David Gelernter ist ein ganz ungewöhnlicher Mann. Zunächst war er als Maler tätig, absolvierte danach ein Studium der Judaistik und wandte sich schließlich der Informatik zu. 1993 überlebte er mit schweren Verletzungen ein Briefbombenattentat, für das der „Unabomber“ verantwortlich war. Heute ist Gelernter Professor für Computerwissenschaft an der Yale University und schreibt außerdem Kommentare und Essays für eine Reihe von Zeitungen und Zeitschriften. Als politischer Publizist ist er ein Verfechter des Neokonservativismus. In seinen Augen sind die linksliberalen Intellektuellen, die mittlerweile in den Vereinigten Staaten über die Deutungshoheit verfügen würden, Schuld am Niedergang des Patriotismus und am Zerfall der traditionellen Familie. Der Informatiker Gelernter gehört zu den größten Pionieren und Visionären des Internets überhaupt. Mit seinen Ideen hat er entscheidend dazu beigetragen, dass das World Wide Web hat entstehen können. Und die vom ihm entwickelte Programmiersprache „Linda“ hat es erst ermöglicht, gigantische Datenmengen in Clouds auszulagern.
„Der Transhumanismus“, schreibt Gelernter, „ist heutzutage allgegenwärtig; schon bald wird er in einer Universität (dann in einer Oberschule und dann in einem Kindergarten) in unserer Nähe Einzug halten.“ Mit „Transhumanismus“ ist die Auffassung gemeint, dass die Menschheit herrlichen Zeiten entgegengehen würde, wenn man den menschlichen Körper und das menschliche Gehirn so weit wie irgend möglich technisch aufrüsten würde. Doch was würde passieren, wenn man in menschliche Gehirne Mikrochips einpflanzen würde, um das Leistungsvermögen des Gedächtnisses zu steigern? Dann, behauptet Gelernter, würde man ständig die in digitalisierter Form gespeicherten Erinnerungen abrufen, weil sie gut sortiert, auf dem neuesten Stand und in Sekundenschnelle verfügbar wären. Die alten analogen Erinnerungen hingegen würden selbst dann nicht mehr abgerufen werden, wenn es dringend erforderlich wäre. Ein selbstzerstörerisches Wettrüsten würde dadurch in Gang gesetzt werden, und das organische Gedächtnis würde immer mehr veröden.
Laut Gelernter könnten durch Mikrochips allenfalls solche Gedächtnisleistungen ersetzt werden, die im Dienst des bewussten menschlichen Geistes stehen. Der bewusste Geist, der in erster Linie aufs Handeln ausgerichtet ist, öffnet den „Erinnerungshahn“ nur dann, wenn er mit einer bestimmten Aufgabe beschäftigt ist, und dreht ihn anschließend wieder zu.
Ganz anders geht es beim weniger bewusst oder unbewusst arbeitenden Geist zu. Jetzt reißt das Gedächtnis das Ruder an sich, der Hahn ist weit geöffnet und Ströme von emotional aufgeladenen, lebensgeschichtliche Szenen und Episoden widerspiegelnden Erinnerungen fließen heraus. Aus ihnen gehen alle Phantasien, Halluzinationen, Tagträume und Träume hervor – also die Erinnerungen, die nicht abgerufen, sondern durchlebt werden.
Wie das Gedächtnis Erinnerungen anlegt, sie ordnet, verarbeitet und bearbeitet, das alles läuft nach Gelernter unbewusst ab – weshalb man diese Prozesse nur allzu leicht durcheinander bringt, wenn man in sie einzugreifen versucht.
Immer wieder wird behauptet, dass das menschliche Gehirn einem Computer und der menschliche Geist einem Computerprogramm ähneln würde. Wenn das stimmt, bräuchte man bloß die neuronalen Schaltkreise im Gehirn in sämtlichen Details nachbauen, um einen solchen Geist zu erzeugen. Auch Gelernter hat zunächst so gedacht. Doch dann plagten ihn Zweifel, und nach langem Nachdenken hat sich seine Sicht der Dinge radikal geändert. Das Ergebnis dieses langen Nachdenkens ist dieses Buch.
Im Zentrum von Gelernters Überlegungen steht eine Einsicht: Der menschliche Geist durchläuft Tag für Tag verschiedene Bewusstseinszustände (die wiederum verschiedenen körperlichen Zuständen entsprechen), und diese Zustände bilden die Stadien einer Hierarchie. Je höher das Stadium ist, auf dem sich der Geist gerade befindet, desto mehr ist er wach, aktiv, zielgerichtet und rational, und desto mehr ist er mit Energie geladen und auf das Hier und Jetzt konzentriert. Und je tiefer das Stadium ist, desto weniger Energie steht dem Geist zur Verfügung, desto passiver ist er, desto mehr gib er sich seinen Empfindungen, Gefühlen, Assoziationen und Erinnerungen hin, und desto mehr schwindet das Ich-Bewusstsein. Die Evolution, vermutet Gelernter, hat es offenbar so eingerichtet, dass es Menschen viel schwerer fällt, von den oberen Stufen zu den unteren hinabzusteigen, als sich in umgekehrter Richtung zu bewegen. Denn für das Überleben in steinzeitlichen Verhältnissen ist es vorteilhafter, schnell wach als schnell müde werden zu können.
David Gelernter hat ein ganz ungewöhnliches Buch geschrieben. Obwohl es sich ausschließlich mit dem befasst, was im Gehirn vor sich geht, schiebt er die Erkenntnisse der Gehirnforschung, der Kognitionswissenschaft und der Biologie beiseite. Stattdessen zieht er einige wenige Philosophen und Freud heran, zitiert aus Romanen und Gedichten von Jane Austen, Tolstoi oder Wordsworth bis hin zu Nabokov oder Coetzee. Und er beruft sich ansonsten auf die Logik der Alltagssprache und Selbstbeobachtungen. Seine Ausführungen sind deswegen ohne Vorkenntnisse verständlich, allerdings auch schwer zu überprüfen. Trotzdem ein exzellentes Buch. Wenn man es gelesen hat, nimmt man die eigene Innenwelt mit anderen Augen wahr.

David Gelernter: Gezeiten des Geistes. Die Vermessung unseres Bewusstseins. Ullstein Verlag, Berlin 2016. 392 Seiten, 22,00 Euro.