19. Jahrgang | Nummer 14 | 4. Juli 2016

Epitaphien, Mordwangen und andere Grabmäler

von Dieter Naumann

Die Friedhöfe auf der Insel Rügen stammen teilweise noch aus der Zeit der Christianisierung und waren anfangs „Kirchhöfe” im wahren Wortsinne: Mit Errichtung der Kirchenbauten wurde das Gelände rundum zum Totenacker. Die mittelalterliche Vorstellung einer Gemeinschaft lebender und toter Kirchenmitglieder fand ihren Ausdruck in dieser Einheit von Gotteshaus und Begräbnisplatz. Die Zustände auf den Friedhöfen waren aber wohl nicht immer die besten. Aus der Rügen-Literatur sind Klagen der Pastoren von Garz über unzumutbare Verhältnisse bei Begräbnissen und Unordnung auf dem Friedhof bekannt. Monate, auch Jahre soll es häufig gedauert haben, ehe Verstorbene ordentlich begraben wurden. Haustiere grasten ungehindert zwischen den Gräbern. Erst durch eine Begrenzung der Kirchhöfe wurde der geweihte Ort von der übrigen sündhaften Welt abgeschieden.
Johann Friedrich Zöllner vermerkte im Bericht über seine Bildungsreise nach Rügen im Sommer 1795: „Die Kirchhöfe sind hier überall voll Leichensteine. Die Küster legen sich häufig auf die Steinmetzkunst und zieren die Steine, die aus Schweden gebracht werden, mit allerlei, bald sinn-, bald wortreichen Innschriften, um sich einen Nebenverdienst zu machen. Die Leute, die so schöne Sachen bis auf Namen und Datum fertig finden, können dem Reiz nicht widerstehen, das Grab ihrer Geliebten damit zu putzen. Auch bestellen sich viele beim Küster, was sie darauf wollen gegraben haben, um dem Verstorbenen und ihrem eigenen Genie zugleich ein Denkmahl zu setzen.“ (Die Schreibweise folgt dem Original.)
Tatsächlich befinden sich auf rügenschen Friedhöfen und in den Kirchen Grabmonumente, die 150, 200, teilweise noch mehr Jahre alt sind. Zu den ältesten gehört ein aus einer Eichenbohle gefertigtes Totenbrett in der Kirche von Schaprode, das geschnitzt und bunt bemalt das naive Porträt des 1658 verstorbenen Jochen Tode zeigt, „seines Alters gewesen 67 Iar“.
In fast allen Stilformen sind Stelen und Grabplatten aus Kalkstein auf der Insel zu finden, die ältesten aus dem frühen 18. Jahrhundert, die schönsten und aussagekräftigsten wohl aus der Zeit zwischen 1790 und 1850. Schlank, nach oben sich leicht verjüngend mit unterschiedlichsten Aufsätzen, weisen sie auf den mittleren Flächen Inschriften auf, während Basis und Oberteil mit allerlei Bildsymbolik versehen sind. Häufig handelt es sich um religiöse Symbole, wie die Krone (als „Krone des ewigen Lebens“), geflügelte Engelsköpfe, Palmenzweige, das Dreieck mit dem Auge Gottes, Totenkopf, gekreuzte Knochen, Sense als Zeichen des Todes und der „letzten Ernte“, die Sanduhr als Zeichen der Vergänglichkeit, Stern und Sternenkorona als Jenseitszeichen, die sich in den Schwanz beißende Schlange als Sinnbild für die Ewigkeit. Es finden sich aber auch Anker und Schiffe, die auf die Profession des Verstorbenen als Schiffer oder Lotse hinweisen, so auf den Kirchhöfen von Altenkirchen, Rappin und Schaprode. Die von Zöllner erwähnten Inschriften waren zumeist Bibeltexte auf einer Seite des Grabsteins, auf der anderen Angaben zu den Verstorbenen. Ein in der Kirche von Groß Zicker aufgestellter Grabstein für Ilsabel Locks, 1782 geboren, verweist etwa darauf, dass sie „nach langen Leiden … in dem Alter von 32 Jahr 6 Monat 14 Tage“ starb. Nicht immer sind die Daten so genau: Auf dem Friedhof von Swantow heißt es, dass Carl Bult starb, „seines Alters 71 Iahr 3 Monat etzliche Tage“. „So ruh nun sanft im Schoos der Erden du gutes Eheweib“, ist auf einer Stele im ehemaligen Klosterhof von Bergen zu lesen. Die so Gepriesene war die „wohlgeborn Frau Agnes Thecla Beyer, geborene Wieczorkosky“.
Nicht alle Texte auf Grabstelen und -platten sind derart erbaulich. In der Rappiner Kirche liegt eine Grabplatte mit folgender Inschrift: „Dem Heiligen Gott zue Ehren: Den Einfaltigen zue christlicher Erbawung: Wie auch ihren beiderseits selig in Gott verstorbenen 9 Kindern, als: Andrea, Michaeli, Paulo, Johanni, Maria, Anna, Catharina, Judith und Sophia Maria, zue gutem Andencken haben dieses Altar in diese Rappihnsche Kirche Ano 1669 setzen lassen beiderseits Eheleute Andreas Horn. Pastor allhie Anna Mulkowen […]” Hintergrund für die großzügige Schenkung des Altars war die Tötung der neun Kinder des Pastorenehepaares durch eine verbrecherische Amme, die dafür als Hexe verbrannt wurde.
Weitgehend ohne Symbolik und Text kamen Grabsteine aus gespaltenen Findlingen aus, von denen einige im Chorraum der Kirche Groß Zicker zu sehen sind: An Stelle von Namen sind sie mit Hausmarken und dem Sterbejahr versehen, hier aus der Zeit zwischen 1744 und 1842. Hausmarken, meist linear geformte runenartige Zeichen, waren früher, als Lesen und Schreiben noch nicht allgemein üblich waren, auf Rügen und Hiddensee weit verbreitet. Mit ihnen kennzeichnete man das Haus, den Besitz an Vieh, Weide, Gerätschaften und eben auch die Grabsteine.
Noch bis zum Ende des 18. Jahrhunderts war es üblich, dass sich hohe Kirchen- und weltliche Fürsten, später auch Angehörige anderer Schichten, sofern sie es sich leisten konnten, in den Kirchen begraben ließen, möglichst nahe am Altar, teilweise aber auch unter dem Gestühl der Angehörigen. Mittelalterliche Grabplatten sowie die häufig regelrechte „Parzellierung“ des Kirchenbodens mit Grüften und Grabplatten zeugen davon, dass besonders Adlige in Patronatskirchen das Recht für sich in Anspruch nahmen, an prominenter Stelle in der Kirche begraben zu werden, um der erstrebten Erlösung und Auferstehung möglichst nahe zu sein. So stieß man bei Umbauarbeiten in der Kirche von Garz im Jahre 1913 unter dem Hauptschiff auf zahlreiche Leichen, das Schiff soll regelrecht mit Grabstellen unterminiert gewesen sein. Erst ein Patent von 1778 unterband Begräbnisse im Kircheninneren.
Galten Grabstätten in der Kirche als Auszeichnung und Privileg, bedeutete umgekehrt ein Begräbnis außerhalb des Kirchhofs Schande und Strafe. Selbstmörder etwa wurden außerhalb der Kirchhofmauern bestattet. Noch heute zeugen die sechs Flurnamen „Galgenberg” davon, dass Hingerichtete oft gleich an der abseits gelegenen Richtstätte eingegraben wurden, ohne irgendeine Art von Gedenkstein.
Im Gegensatz zu den Grabplatten waren die im 14. Jahrhundert aufkommenden Epitaphien losgelöst vom eigentlichen Ort der Bestattung stets aufrecht an einer Innen- oder Außenwand oder einem Pfeiler der Kirche angebracht. Das konnte sogar in einer anderen Kirche sein, beispielsweise am Geburts- oder Wirkungsort des Verstorbenen. Nicht selten bestanden Epitaphien aus kostbarem gotländischen Kalkstein oder Sandstein. Besonders eindrucksvolle Exemplare für Vorfahren derer von Putbus finden sich in der Kirche von Vilmnitz. Tafeln aus Holz wurden häufig aufwendig geschnitzt, bemalt und beschriftet. Epitaphien aus dem frühen 17. Jahrhundert in der Kirche von Samtens verkünden, der „Edle Gestrenge und Ehrenverte Henningk v. d. Ohsten“ und die „edle viel ehr- und tugentreiche Fraw Anna Levezowen Henning v. d. Osten E.HF“ seien hier „sehliglich entschlafen“.
Eine Besonderheit stellen die mittelalterlichen Mordwangen dar, flache und hohe Steine, die als Erinnerung an einen umgebrachten Geistlichen oder anderen Prominenten durch die Hinterbliebenen des Getöteten oder die Verwandten des Mörders am Ort der Bluttat aufgestellt wurden. Auf Rügen finden sich Mordwangen noch am Ortseingang von Schaprode (für den 1368 erschlagenen Knappen Reinwart von Platen), an der Choraußenwand der Gingster Kirche (für den 1554 vermutlich durch den Edelmann Sambur Preetz aus Silenz ermordeten Pfarrer Laurentius Krintze; die Wange wurde 1718 als Grabstein umgewidmet) und auf dem Friedhof der Kirche von Gustow (für den 1510 erschlagenen Pfarrer Thomas Norenberg).
Leider wurden viele Grabplatten von aufgegebenen Grabstätten in der Vergangenheit zerschlagen und für den Straßenbau oder als Mauersteine verwendet. Als noch vertretbar könnte man die Nutzung alter Grabplatten als Bodenplatten und Treppenstufen etwa im Eingangsbereich zu den Kirchen verstehen, wie in Lancken-Granitz. Längst ist man aber dazu übergegangen, alte wertvolle Platten und Stelen wieder aufzustellen und der Nachwelt zu erhalten.