19. Jahrgang | Nummer 13 | 20. Juni 2016

Wiek auf Rügen – von der Flugstation zum Kinderheim

von Dieter Naumann

Lehrer P. aus Berlin-Wilmersdorf erhielt im Juni 1946 folgende Karte: „Lieber Herr P. Es gefällt mir hier sehr gut. Es ist heute hier sehr warm. Wir liegen in Turnhosen hier. Wir sind im ganzen 1250 Kinder. Herzliche Grüße an dich dein Schüler Karlheinz.“ Auf einer am 19. Juli 1961 abgestempelten Karte an die „liebe Mutti“ heißt es: „Das Wetter ist immer noch schön, auch gestern konnten wir uns noch sonnen. Heute bin ich mit voller Ausrüstung (Hosen + Anorak) ins Wasser gesprungen, wegen 2 kleinen großen Stänkern, na die haben wir aber verdroschen, aber naß war ich doch. Jeden Morgen und Abend steigt hier der Pastor auf den kleinen Kirchturm (Karte) steckt seine Trompete durch die Luke und bläst uns was.“
Es ist nicht nur die Schrift, die die kindlichen Absender der Karten aus dem Kinderheim in Wiek auf Rügen verrät, ein Heim mit interessanter Geschichte, die bis in die Gegenwart reicht.
Der Reiseführer von Schuster schildert in seiner Ausgabe für 1929-1930 die Vorgeschichte: „Wiek war durch die Kriegszeit zu großer Bedeutung gelangt. Es wurde Marine-Flugstation, am Hafen und auf dem über dem Bodden liegenden Bug wurden Flugzeughallen erbaut, in Wiek derer vier, daneben Baracken für eine 1000 Mann starke Besatzung. Die Station musste auf Anordnung der Entente aufgelöst werden …“ Das riesige Areal verkaufte man  an die sächsische Regierung, und einige der Baracken wurden als sächsisches Kinderheim, Leitung Jugendamt Chemnitz, eingerichtet; 35 sächsische Städte hatten sich dafür zusammengeschlossen. Ab 1922 konnten bis zu 1.250 Kinder nun in einem der größten Kinderheime im Osten Deutschlands in der Zeit von Mitte April bis Mitte Oktober Erholung finden, wobei die Belegung alle sechs Wochen wechselte.
Der endgültige Ausbau zum „Sächsischen Kinderkurheim“ – später auch „Weiße Kinderstadt am Bodden“ genannt – erfolgte 1928/29 nach Plänen der Architekten und Bauhausschüler Oskar und Gustav Waldo Wenzel mit einem Aufwand von 1,5 Millionen Mark. 26 Häuser, ein großes Wirtschaftsgebäude, Gärtnerei, Wasserturm und eigener Strand waren nur einige der Baulichkeiten.
Die Kinder wurden in Gruppen zu je fünfzig mit der Bahn bis nach Stralsund und von dort mit dem Dampfer „Hiddensee“ nach Wiek gebracht, einige reisten auch mit dem Rasenden Roland an, der damals noch bis Wiek fuhr. Pro Gruppe fuhren zwei Mütter zur Betreuung mit. Für diese Tätigkeit durften sie anschließend drei Tage in Wiek bleiben und dabei entweder in einem Privatquartier oder im Kinderheim übernachten. Die Kosten für Übernachtung und Frühstück übernahm das Heim.
Kurz vor und während des Zweiten Weltkrieges fungierte das Heim vorrangig als Kaserne, staatliche Erziehungsanstalt, Wehrertüchtigungslager, Hilfs- bzw. Reservelazarett, danach wurden zunächst Typhuskranke aufgenommen, später kamen hier kranke Flüchtlinge unter, teilweise diente das Heim auch als Durchgangslager für Flüchtlinge. Zwischen 1946 und 1949 erholten sich hier Waisenkinder, für kurze Zeit (1953/54) war das Heim Wohnlager der Bau-Union im Zusammenhang mit dem damals geplanten, aber nie realisierten Marinehafen Glowe. Je nach Nutzung wurde aus dem „Sächsischen Kinderheim“ das „Umsiedlerkinderheim“, „Landeskinderheim“ …
Am 1. Juli 1949 übernahm die damalige Sozialversicherungsanstalt (SVA) der späteren DDR das „Kindergenesungsheim“, später (Pionier-) Heim „Frohe Zukunft“. In den 1950er Jahren wohnten in jedem Haus jeweils 40 Kinder im Alter zwischen fünf und vierzehn Jahren, im Erdgeschoss die „Großen“, die Kleineren im Obergeschoss, anfangs „natürlich“ streng getrennt nach Jungen und Mädchen. Pro Jahr gab es zwölf Kurdurchgänge; die rund 450 Kinder eines Durchganges wohnten jeweils drei bis vier Wochen „in 26 fernbeheizten Kinderhäusern mit fließendem kaltem und warmem Wasser, jedes Haus umgeben mit einer schönen Gartenanlage. Jede Kindergruppe hat einen gemeinschaftlichen Schlafsaal und je einen Speise- und Beschäftigungsraum“, erläuterte das Handbuch Ostseeküste von 1963. Vorausgegangen waren umfangreiche Renovierungs- und Modernisierungsmaßnahmen der Schlaf- und Aufenthaltsräume sowie der Wirtschafts- und Sanitäreinrichtungen, die sich über mehrere Jahre hinzogen.
Heute beherbergen die denkmalgeschützten weißen Holzgebäude mit Kolonnaden im so genannten Florida-Baustil eine Reha-Fachklinik für Mutter und Kind.
Vom Kinderheim liegen aus unterschiedlichen Zeitabschnitten Ansichtskarten mit vielen Motiven vor, die von einem Gesamtüberblick aus dem Flugzeug über Detailaufnahmen von den Gebäuden und Einblicken in die Räume bis hin zu den Beschäftigungen der Kinder reichen. So sind die Heiminsassen beim Spielen, Baden, bei Schiffsausflügen und Wanderungen, aber auch beim Kartoffelschälen, bei Appellen und anderen mehr oder minder beliebten Aktivitäten zu sehen.
Für viele Kinder war es das große Abenteuer – der erste Aufenthalt an der Ostsee, die erste längere Abwesenheit von zu Hause und die Gemeinschaft mit Kindern aus anderen Orten des Landes. Daran konnten weder die anfangs noch primitiven Wohnverhältnisse in Schlafsälen mit einer Belegung von bis zu 16 Betten, die beängstigend erscheinende Enge im großen Speisesaal und das vermutlich nicht immer allen Geschmäckern entsprechende Essen etwas ändern. Auch die in den 1950er Jahren organisierte Pionier- und Erziehungsarbeit durch Gruppen- und Heimräte, die Fahnenappelle, bei denen kleine Disziplinlosigkeiten schon einmal vor der versammelten Belegung gerügt wurden, und der Schulunterricht konnten die Freude am Kuraufenthalt nicht trüben.
Wer wollte, konnte sich später an die aufregende Zeit mit verschiedenen Porzellan- und Steingutartikeln von A. F. Kahla, C.W. & Co., Deesbach und anderen Firmenerinnern – Vasen, Dosen, Nadelkissen (sinnigerweise in einem Miniatur-Holländerschuh) und, besonders passend für ein Kinderheim, Aschenbecher mit teils farbigen Ansichten vom Heim. In diesen Jahren war nicht zuletzt eine von den Kindern selbst geschriebene, von der Leitung des Hauses zusammengestellte und gedruckte Heimzeitung als Mitbringsel beliebt.
Insgesamt ist auffällig, zugleich aber auch verständlich, dass die Absender auf allen vorliegenden Karten zum Ausdruck bringen, dass es ihnen gut gehe und sie sich wohl fühlten, ganz gleich, in welcher Entwicklungsetappe des Heimes die Karten geschrieben wurden.
Nur Ute aus Halberstadt wollte möglichst schnell nach Hause, sie hatte dafür allerdings auch triftige Gründe und schrieb im Dezember 1983 an ihre Eltern aus dem Kinderheim „Frohe Zukunft“: „Ich freue mich schon wenn ich wider bei Euch bin und auf denn Weinachtsmann. Viele liebe Grüße sendet Euch Ute. Ich wünche mir ein Tier. Mir geht es gut …“