19. Jahrgang | Nummer 8 | 11. April 2016

Plurale Ökonomie

von Ulrich Busch

Zwecks Fundierung wirtschafts- und sozialpolitischer Maßnahmen greift die politische Klasse gerne auf ökonomische Theorien zurück. Für den derzeit dominierenden Neoliberalismus erweist sich dafür als besonders geeignet die unter anderen auf William Stanley Jevons, Alfred Marshall und Léon Walras zurückgehende neoklassische Theorie, ergänzt um einige Versatzstücke aus dem Keynesianismus und dem Institutionalismus. Sie gilt deshalb als Mainstream, als ökonomische Orthodoxie, während alle anderen wirtschaftstheoretischen Ansätze heterodoxen Charakters sind.
In den Lehrprogrammen der Volkswirtschaftslehre (VWL) spiegelt sich das derart wider, dass vor allem in den ersten Semestern überwiegend neoklassische Inhalte und Methoden vermittelt werden, während die alternativen Theorien den höheren Semestern vorbehalten bleiben, aber selbst hier meist nur ein Schattendasein fristen. Dieses Herangehen entspricht zweifelsohne den realen Bedingungen in unserer Zeit und den aktuellen Bedürfnissen der Politik. Es gibt dafür aber auch handfeste methodische Gründe. Gleichwohl ist dieses Vorgehen, das die komplexe ökonomische Realität aus einer einzigen Perspektive theoretisch zu erklären versucht, umstritten. Besondere Würdigung verdient in diesem Zusammenhang das Bemühen engagierter Hochschullehrer und Studenten um eine „plurale Ökonomie“.
Die Kritik an der traditionellen VWL und deren Lehrprogrammen hat einiges für sich. Insgesamt aber erweist sie sich als noch nicht ausgereift und unter den gegebenen Bedingungen zudem als illusorisch. So wird zum Beispiel vorgeschlagen, das Ökonomiestudium nicht allein mit der Behandlung neoklassischer Theoreme zu beginnen, sondern parallel dazu auch andere Ansätze zu behandeln – wie neoricardoianische, keynesianische, neukeynesianische, schumpeterianische, institutionalistische, marxistische, neomonetaristische, wohlfahrtstheoretische. Man muss sich das praktisch vorstellen, um zu verstehen, zu welcher Konfusion ein solches Herangehen führen würde. Neben den unlösbaren didaktischen Problemen würden sich immense konzeptionelle Schwierigkeiten auftun: So gibt es bespielsweise überhaupt keine keynesianische oder institutionalistische Mikroökonomie, weshalb alle relevanten Lehrkonzepte der VWL mit neoklassischer Haushalts- und Unternehmenstheorie, als den beiden Hauptbestandteilen der Mikroökonomie, beginnen. Wie auch sonst? Es ginge gar nicht anders.
Aber auch methodisch ist das Anliegen einer „pluralen Ökonomie“ im Grundstudium nur schwer umsetzbar. Dies wird sofort deutlich, wenn man es auf ein anderes Gebiet, zum Beispiel die Mathematik, anwendet. Dieser Vergleich bietet sich an, denn die Erstklässler einer Grundschule verstehen von Mathematik ungefähr so viel wie die Erstsemester einer Universität oder Hochschule von VWL verstehen. Dass in der Schule mit arabischen Ziffern und dem Dezimalsystem begonnen wird, und zwar ausschließlich, und nicht parallel dazu römische Ziffern oder duale Zahlensysteme vermittelt werden, stellt niemand infrage. Ebenso leuchtet jedem ein, der in der Schule das Rechnen gelernt hat, dass am Anfang nur einfache Zahlen behandelt werden, natürliche ganze Zahlen, aber keine Brüche, Dezimalbrüche, negative Zahlen, Potenzen, Wurzeln, Logarithmen. Warum sollte das in der Ökonomie anders sein?
Auch hier gelten die Prinzipien des Vorwärtsgehens vom Einfachen zum Komplizierten, des Aufsteigens vom Abstrakten zum Konkreten, von Induktion und Deduktion. Der Vorwurf an die VWL, sie verfahre reduktionistisch, indem sie mit abstrakten Kategorien wie Preis, Menge, Geld, Markt, Angebot, Nachfrage beginne, was der Komplexität der gesellschaftlichen Realität nicht hinreichend Rechnung trägt, und sie diese dann auch noch einseitig neoklassisch interpretiere, führt zu keinem vernünftigen Schluss. Es sei denn, man wünscht sich überhaupt kein logisch aufgebautes Lehrgebäude und kein systematisch vorgehendes Studium, sondern insistiert auf eine „politische Ökonomie“ in Form einer politik- und sozialwissenschaftlich angelegten allgemeinen Wirtschafts- und Gesellschaftskritik propagandistischen Zuschnitts, ohne großen wissenschaftlichen Anspruch und Zeitbezug.
Dies tangiert die von Kritikern der traditionellen VWL vielfach beklagte Mathematisierung. Während nicht wenige Ökonomen in der fortgeschrittenen Mathematisierung ihres Faches den Gradmesser für die Wissenschaftlichkeit ökonomischer Forschung sehen, erblicken andere hierin eine Verselbstständigung mathematischer Methoden und modelltheoretischer Kunstfertigkeit. Natürlich sollten quantitative Methoden und ökonometrische Modelle nicht Selbstzweck sein, sondern der Erkenntnisgewinnung ökonomischer Sachverhalte und Zusammenhänge dienen. Ohne höhere Mathematik aber lässt sich heutzutage nun mal keine ökonomische Forschung mehr betreiben. Die Konsequenzen daraus für die ökonomische Lehre liegen auf der Hand.
An dieser Stelle sei an Gottfried Wilhelm Leibniz erinnert, der da meinte, „ohne Philosophie dringt man niemals auf den Grund der Mathematik“ und „ohne Mathematik niemals auf den Grund der Philosophie. Ohne beide [aber] kommt man auf den Grund von gar nichts“. Statt Philosophie könnte hier auch Ökonomie stehen! Trotzdem aber sind die Vertreter einer „pluralen Ökonomie“ mit ihrer Kritik teilweise im Recht: Die ökonometrischen Modelle, die heute die „höhere“ Ökonomie beherrschen, sind teilweise zum Selbstzweck geworden, ihr ökonomischer Aussagewert bleibt häufig hinter der mathematischen Eleganz der formalen Darstellung zurück. Dies ist aber in erster Linie eine Frage der ökonomischen Forschung und nicht der Lehre.
Ebenso ist es richtig zu fordern, dass heterodoxe Auffassungen im Rahmen der volkswirtschaftlichen Lehre mehr Raum bekommen sollten. Das gilt allerdings weniger für das Grundstudium, sondern mehr für darauf aufbauende, spätere Studienabschnitte. Auch darf nicht übersehen werden, unter welchen gesellschaftlichen Bedingungen sich die Diskussion um eine „plurale Ökonomie“ vollzieht: Der Mainstream der ökonomischen Theorie und Lehre wird immer den jeweiligen gesellschaftlichen Bedingungen entsprechen. Die heterodoxen Auffassungen stellen Alternativen hierzu dar, Alternativen zur herrschenden Theorie wie zur bestehenden Gesellschaft. Als solche werden sie immer nur eine periphere Existenz behaupten können. Jeder anders lautende Anspruch muss unter den gegebenen Verhältnissen zwangsläufig als illusionär erscheinen.