19. Jahrgang | Nummer 5 | 29. Februar 2016

Von der Aversion zum Faible – meine Sepulkralmetamorphose*

von Alfons Markuske

Begräbnisorte können die unterschiedlichsten Emotionen beim Besucher hervorrufen, besonders wenn der sie nicht aus einem Traueranlass aufsucht. Da waren meine Lebensgefährtin und ich auch schon „erschlagen“ von der schieren Wucht der Historie, die manche Nekropolen entfalten – so in der „Westminster Abbey“ im Herzen Londons, wo neben einer Hekatombe von Größen aus der britischen Geschichte, aus Wissenschaft und Kunst (Newton, Händel, Darwin, Dickens) auch Maria Stuart und Elisabeth I. „einvernehmlich“ zur letzten Ruhe gebettet sind. Die erstere Monarchin wurde bekanntlich auf Geheiß der zweiteren, ihrer Großcousine, enthauptet.
Nicht zuletzt können Größe und Einmaligkeit überwältigend sein: Der Familienfriedhof der Konfuzes im chinesischen Qufu, der Geburtsstadt des Philosophen, ist seit über 2.000 Jahren und bis heute ausschließlich Begräbnisstätte des Philosophen und seiner Nachfahren. Mit über 100.000 Gräbern. Die Länge der Einfriedungsmauer beträgt 7,5 Kilometer.
An anderer Stätte wiederum überraschten uns die lebenden Bewohner des Gottesackers – auf dem „Protestantischen Friedhof“ in Rom, dessen Bezeichnung allein man schon für einen beredten Ausdruck der bekannten Arroganz und Anmaßung des Katholizismus gegenüber praktisch allen anderen Groß- und Kleinreligionen halten könnte. Sind dort doch Vertreter vieler nicht-katholischer Glaubensrichtungen einschließlich Atheismus und Sozialismus (zum Beispiel Antonio Gramsci) beerdigt. Die italienische Hauptbezeichnung dieses Areals lautet zwar „Cimitero acattolico“, was eher korrekt denn anmaßend klingt – solange man davon absieht, dass in Rom zu früheren Zeiten eben alle anderen Toten von denen des einzig wahren, nämlich des katholischen Glaubens sorgfältig separiert und weit vor der Stadt, wo dieser Friedhof 1738 entstand, verscharrt wurden. Erster „Nutznießer“ war übrigens ein Student aus Oxford.
Und die erwähnten lebenden Bewohner? Katzen und Kater in erklecklicher Zahl! Nicht nur geduldet, sondern auch hin und wieder mit Futter versorgt wie an anderen Stellen der römischen Innenstadt. Sie dösen in der sommerlichen Tageshitze überwiegend vor sich hin – wahlweise in der Sonne oder, unter Bäumen, im Halbschatten, auf Grabsteinen, Grabstellen, auf und zwischen der Bodenvegetation, auf der Umfassungsmauer et cetera. Ein Bild vollendeter Friedfertigkeit und Idylle.
Es können sich auf einem Friedhof zu allen bisherigen Emotionen jedoch auch noch ganz andere gesellen. Sarkasmus zum Beispiel. Etwa vor dem Mozart-Denkmal auf dem „Wiener Zentralfriedhof“. Diese Schla-Wiener, ja Barbaren! In einem anonymen Massengrab verscharrt haben sie das größte musikalische Genie der Menschheitsgeschichte (auf dem „Sankt Marxer Friedhof“, auch in Wien), so dass der Leichnam nicht mehr auffindbar war, als irgendwem dann endlich doch dämmerte, was da passiert war. Kein Wort davon natürlich auf dem Denkmal. – Mit seinen zweieinhalb Quadratkilometern Fläche und 330.000 Grabstellen zählt dieser Friedhof übrigens zu den größten in Europa. Dem Kabarettisten Hagen Rether gab er vor Jahren die Vorlage für eine Sottise über eine deutsche Stadt, deren Namen hier pietätvoll verschwiegen werden soll. Reden machte sie allerdings von sich durch eine ähnliche Pseudorekonstruktion ihres Residenzschlosses wie Berlin, nur dass dort hernach nicht die Völkerkunde einzog, sondern gleich eine ECE-Shopping-Mall. Diese Stadt, so Rether, sei zwar nur halb so groß wie der Wiener Zentralfriedhof, dafür aber doppelt so tot.
Nicht gar so selten, wie man für Friedhöfe vielleicht erwarten sollte, sind nicht zuletzt erotische Momente – in der Regel in Gestalt schöner, figurbetonter, bisweilen auch mehr oder weniger entblößter Frauen- und Männerkörper, respektive -skulpturen auf Gräbern und Grabmalen. Unter anderem der „Cimitero Monumentale“ in Mailand hält ein paar besonders eindrückliche Beispiele dafür bereit. Und als ich vor etlichen Jahren während einer Frankreich-Reise André Chabots Buch „Érotique du Cimetière“ entdeckte, nahm mich die Ausstrahlung der zahlreichen Schwarz-Weiß-Fotografien so gefangen, dass mich auch meine fehlenden französischen Sprachkenntnisse nicht vom Erwerb abhielten.
Vor diesem Hintergrund dürfte es kaum verwunderlich sein, dass ich sofort zuschlug, als ich auf den Titel „Die morbide Schönheit alter Friedhöfe“ von Rebekka Rehberger und Giovanni Perna stieß, und es sollte keine Enttäuschung werden. Insbesondere Pernas Schwarz-Weiß-Fotos, von Rebekka Rehberger ebenso knapp wie einfühlsam besprochen („malerisch, fast surreal anmutende Fotografie“; „Ästhetik des Vergänglichen“; „die Fotokunst Giovanni Pernas, welcher ein äußerst suggestiver Zwang anhaftet“, so „dass der Betrachter mit seiner eigenen Sterblichkeit konfrontiert, zur Kontemplation und zum Ausleben seiner Gefühle angeregt wird“ – jedes Wort kann hier „unterschrieben“ werden), ziehen den Betrachter förmlich rein in diesen Band. Und man kommt beim Schauen ganz schön herum – Italien, Frankreich, USA, Deutschland, Irland und Spanien sind noch keineswegs alle Länder, in denen der 1961 in Sindelfingen als Sohn eines italienischen Vaters und einer deutschen Mutter geborene Perna den Auslöseknopf gedrückt hat.
Übrigens muss der Charme alter Friedhöfe keineswegs immer so morbide-melancholisch ausfallen wie auf Pernas Fotos, er kann auch ausgesprochen sanguinisch daherkommen. Das wird ohne weiteres bestätigen, wer im zeitigen Frühling von Ende März bis Ende April schon einmal um die Mittagszeit, wenn die Sonnenstrahlen durch die noch unbelaubten Bäume bis zum Boden vordringen, den alten aufgelassenen Friedhof des Dörfchens Benz auf Usedom besucht hat. Dann zeigen sich dort auf einem schier end- und lückenlosen Teppich blühender Buschwindröschen pittoreske verrostete, krumm und schief aus der Erde ragende ausgefranste gusseiserne Grabeinzäunungen und ebensolche, bis zur Unlesbarkeit der Namen verwitterte Grabkreuze. Ein Bild wie auf einer (schönen) Kitschpostkarte. Für uns war diese Entdeckung „Beifang“, denn eigentlich hatte es uns auf den direkt benachbarten heutigen Friedhof des Ortes gezogen – zu den Gräbern des Malers Otto Niemeyer-Holstein und seiner Gattin, der DDR-Schauspielerlegende Rolf Ludwig sowie Carola Sterns, der BRD-Publizistin mit Ahlbecker Wurzeln.

Rebekka Rehberger / Giovanni Perna: Die morbide Schönheit alter Friedhöfe, Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale) 2015, 94 Seiten, 24,95 Euro.

* – Teil I dieses Beitrages ist in Ausgabe 3/2016 erschienen.