19. Jahrgang | Nummer 3 | 1. Februar 2016

Von der Aversion zum Faible – meine Sepulkralmetamorphose

von Alfons Markuske

Bis zu meinem 33. Lebensjahr beschränkten sich meine Kenntnis über und mein sinnliches Erleben von Begräbnisstätten im Wesentlichen auf den seinerzeit – was die Atmosphäre betraf – recht düsteren und – hinsichtlich der Gräbergestaltung – ziemlich eintönigen Südfriedhof zu Halle an der Saale. Dort fanden meine beiden Großmütter ihre letzte Ruhestätte, und nach beiden Trauerfeiern in der Kapelle vor Ort sowie den nachfolgenden Bestattungen, von denen ich die eine als Jugendlicher und die andere als junger Erwachsener erlebte, stand für mich fest: Auf Friedhöfe ohne einschlägigen Anlass freiwillig nie einen Schritt!
Eine erste Bresche in dieses Ressentiment, die sich allerdings erst Jahre später als eine solche herausstellen sollte, wurde im Jahre 1975 geschlagen. Ich verbrachte einen mehrwöchigen Studentensommer in Moskau. Dort sprachen einheimische Kommilitonen im Hinblick auf Sehenswürdigkeiten, die man sich nicht entgehen lassen sollte, auch vom Ehrenfriedhof am dortigen Kloster Nowodewitschi. Auf dem seien Künstler, Wissenschaftler, Kosmonauten, Militärs und nicht zuletzt Politiker wie Chruschtschow beerdigt – mit teils imposanten Grabmalen. Das weckte meinerseits zwar eine gewisse Neugier, aber der Friedhof war nicht allgemein zugänglich: Man hätte etwas „organisieren“ müssen, und dafür war das Interesse im Studentenkollektiv insgesamt dann doch nicht groß genug.
Als ich zehn Jahre später im Tross der FDJ-Delegation zu den XII. Weltfestspielen der Jugend und Studenten wieder in Moskau weilte, hatte ich den Vorsatz „nach Nowodewitschi“ zwar nicht im persönlichen Gepäck, aber – obwohl der Friedhof immer noch eine weitgehend geschlossene Veranstaltung war – dieses Mal ergab sich eine Gelegenheit. Wohl eher zufällig. Jedenfalls sind mir deren genauere Umstände nicht mehr erinnerlich. Doch der Eindruck war ein ausnehmend, wie man heute sagen würde, nachhaltiger. Die Namen der dort bestatteten russischen und sowjetischen Prominenten waren schon damals längst Legion, und selbst Modelle von Großwaffensysteme wie Panzerhaubitze und Stalinorgel auf einzelnen Grabmalen übten eher eine gewisse Faszination aus, denn dass sie andere Empfindungen hervorgerufen hätten. Das Grab des legendären Barden Wladimir Wyssozky, so ist mir unvergesslich, war derart mit frischen Blumen – die in Moskau seinerzeit praktisch nicht zu bekommen waren – überhäuft, als hätte die Bestattung nicht schon 1980, sondern erst am Vortage stattgefunden.
Nowodewitschi war im Rückblick die Initiation eines meine frühere Aversion ablösenden ausgemachten Faibles für Friedhöfe und das, was sie uns über Länder und Leute, Geschichte, Zeitgeist, den Geschmack und die Ästhetik wechselnder Epochen erzählen sowie einer Neigung, sich jenen eigentümlichen Stimmungen und Empfindungen hinzugeben, die sich einstellen können, wenn man sich auf die jeweilige Atmosphäre des Ortes einlässt. Dass scheint meiner Lebensgefährtin so ähnlich zu gehen, denn seit wir die nach 1989 stark erweiterten Reisemöglichkeiten genießen, gehören Friedhöfe zu den „gesetzten“ Anlaufpunkten unserer touristischen Ausflüge in vieler Herren Länder.
Die angesprochenen Stimmungen und Empfindungen fallen im Übrigen sehr differenziert aus. Der Emotionsbogen spannt sich von:

  • andächtig (mit einem leichten Stich ins Sentimentale) vor Gräbern wie denen von Frédéric Chopin, Oscar Wilde oder Simone Signoret auf dem „Cimetière du Père-Lachaise“ in Paris über
  • ehrfurchtsvoll vor der „Mur des Fédérés“, der Gedenkstätte für die 1871 standrechtlich erschossenen Pariser Kommunarden, auf demselben Friedhof oder vor dem marmornen Marx-Kopf auf dem „Highgate Cemetry“ in London und
  • befremdet vom Protz vieler Grabmale, zum Beispiel auf dem „Cimitero Monumentale“ in Mailand (auf dem Grab der Familie Campari – das Letzte Abendmahl: in Bronze, mit allen Beteiligten und das Ganze auch noch in Überlebensgröße) bis zu
  • tief berührt wie vor dem beeindruckenden Ehrengrabmal für jene 150 Feuerwehrleute auf dem „Cemitério dos Prazeres“ ( „Friedhof der Freuden“) in Lissabon, die bei einem städtischen Großbrand im 19. Jahrhundert ihr Leben ließen und das sich vor allem aus jenen Werkzeugen und Hilfsmitteln zusammensetzt, mit denen man damals Feuer zu Leibe rückte.

Wird fortgesetzt.