19. Jahrgang | Nummer 4 | 15. Februar 2016

Querbeet (LXVIII)

von Reinhard Wengierek

Meine Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal ein Monolog über das Böse, ein Film über das Gute, eine Show mit Bärten …

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Um es gleich zu sagen: Die knapp zwei Stunden in der Berliner Schaubühne haben mich gebannt wie lange nicht in einem Theater – und schwer erschüttert. Dabei war es „nur“ ein Monolog (Uraufführung), freilich mit kryptisch anmutendem Titel „Mitleid. Die Geschichte des Maschinengewehrs“. Es handelt sich, nüchtern betrachtet, um den Arbeitsbericht einer gerade 20 Jahre alten Junglehrerin aus der Schweiz, die – um „draußen“ etwas wirklich Gutes zu tun – 1994 als NGO-Mitarbeiterin nach Kongo geht. Dort leistet sie Entwicklungshilfe in Form von „Friedensarbeit“ an einer Uni. Alsbald jedoch, in Ruanda tobt der Bürgerkrieg, hilft sie nur noch in riesigen Flüchtlingslagern. Und von da ab kippt der bislang üblich klingende Bericht dieser Frau ins schier Unsägliche: Die „völlig krisenunerfahrene“ Schweizerin gerät zwischen die Fronten eines Völkermordens. Und gegen diesen Wahnsinn verblassen alle Schrecknisse gegenwärtiger „Flüchtlingskatastrophen“. Die naive junge Frau muss Entsetzliches erleben und durchstehen. Und sich fragen: Ist die Lage der Welt wirklich derart aussichtslos, dass jede Hilfsmission versagen muss? Sind tatsächlich Kalaschnikows oder Messer immer und überall die Ultima Ratio?
Den Text dieser Erzählfigur schrieb der Regisseur, Journalist und Soziologe Milo Rau, der berühmt wurde für seine exakt, klar und kalt recherchierten Projekte über in der Welt offen brodelnde oder verdeckt gärende Krisenherde. Sein Material, das durch geschickte Komposition die Wirkung noch steigert, besteht also aus bezeugten Dokumenten, vor allem aus Interviews mit Tätern und Opfern. Ist nichts für schwache Nerven. Ist für sich genommen packendes, dabei Hintergründe sezierendes politisches Theater.
Und doch geht es noch weit darüber hinaus: durch den Einsatz der grandiosen Schauspielerin Ursina Lardi, die als Berichterstatterin antritt. Zunächst distanziert mit ironischen, gelegentlich zynischen Seitenblicken, um dem Publikum mitleidende Gefühligkeiten zu ersparen. Eine aufgeklärte, souverän abgeklärte moderne Europäerin mit Pumps im engen blauen Strickkleid. Eine irritierend elegante, kühle Blonde; intelligent genug für politische Offenheit und soziales Engagement –wie viele hierzulande. Doch ihr Bericht bekommt in unheimlichem Crescendo einen Sog ins Horrorhafte: Sie ist Zeugin eines Genozids; die Todesschreie der Massakrierten übersteht sie nur durch ein Tonband mit Beethovens Siebter Sinfonie, voll aufgedreht.
Noch in der Erinnerung gerät die Coolness der Erzählerin immer mehr ins Wanken. Bröckelnde Selbstbeherrschung, kalte Wut, Bitterkeit, Desillusionierung und Trauer mischen sich geradezu gespenstisch: Wir begreifen: Hier spricht eine schwer Traumatisierte, obgleich das Erlebte zwei Jahrzehnte zurück liegt und sie mehrere Therapien hinter sich hat. Die Lardi liefert eine tiefgründende Menschendarstellung, die so nicht im Text steht, der das Grauen eher nüchtern auflistet. Die Lardi überwältigt uns nicht mit Gräueln, sie sagt das Unsägliche mit beherrscht zitternder Stimme. Sie entwickelt, wenn man das so sagen darf, höchst konzentriert das persönliche, ja intime Drama einer Lehrerin aus der Schweiz. Und sie tut da nichts weiter (nichts weiter?) als das, was einer Schauspielerin ansteht: Individualisieren. Ursina Lardi entwirft, gestützt auf den Text, mit sparsamsten Mitteln (Mimik, Gestik, Stimme) ein erschütterndes Psychogramm. Und so wird aus dem Polit-Theater Menschen-Theater, wird große Kunst. Eine beispiellose Leistung, auch des Regisseurs Milo Rau.
Rau, 1977 in Bern geboren, ist ein Missionar der Aufklärung (via Theater und Film), der in so genannten „Reenactments“ komplexe historische Vorgänge in Dokumenten nachstellt, um uns tiefer sitzende Wahrheiten zu entdecken (unter anderem den Prozess gegen den rumänischen Diktator Ceausescu, das Verfahren gegen die russische Punkband Pussy Riot, das Manifest des norwegischen Attentäters Breivik). Alles international bestaunte Ereignisse des dokumentarischen Polit-Theaters, das sich in „Mitleid“ auch selbstkritisch hinterfragt und noch dazu die „Mitleidsästhetik des Westens“: „Wir – die Kapitalisten des Leidens ‑ schlagen einfach aus den Opfern und Toten unserer Wirtschaft noch ein zweites Mal Kapital, indem wir sie im Kunstraum inszenieren und bemitleiden.“ – Eine aufstörende Feststellung. Dennoch gilt: Diese Inszenierung ist Kunst; provozierend und scharf stechend in unser Hirn und Herz.

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Er wächst im Monat um zwölf Millimeter und ist absolut mehrheitsfähig: der Bart! Das erfahren wir ausgerechnet im Neuen Museum. Sicher, die Berliner Museumsinsel steckt proppenvoll von Männlichkeit mit mehr oder weniger üppiger Gesichtsbehaarung aus sämtlichen Epochen der Kunst. Da liegt die charmante Idee der Direktion nahe, eine kleine, so witzige wie informative Sonderausstellung im Keller des prächtigen Hauses zu arrangieren. Motto: „Der Bart zwischen Natur und Rasur“.
Sonderlich bemerkenswert ein unscheinbares, freilich spektakuläres Objekt hinter Glas: die aufgefundene erste steinerne „Rasierschabe“ aus dem 4. Jahrhundert vor Christus. Etwas später lästerten altgriechische Satiriker: Die Länge des Bartes entspräche der Weisheit des Mannes. Die Pharaonen nahmen die Sache ernst und ließen sich lange, akkurat rechteckig gestutzte Kunstbärte ans Kinn kleben als Zeichen ihrer Würde. Die Beispiele diverser Barttrachten aller Zeiten reichen selbstredend bis ins Heute. Darunter Kuriositäten wie das Foto von Madame Clementine Delait (1865 – 1939) aus Thaon-les-Vosges, die über einen üppigen Rauschebart verfügte, einen Bäcker heiratete und ihre seltsame Männlichkeit munter für Werbezwecke einsetzte. Soll sich gelohnt haben, der Umsatz wuchs so kräftig wie ihr Bart. Zudem erfährt man, dass in London anno 1942 der erste Bart-Club der Welt gegründet wurde. Jetzt gibt es hierzulande nahezu überall für haarige Kerls nebst deren Fans so genannte Bären-Clubs … – Wer also mal wieder spitz ist auf einen Besuch bei Nofretete oder Schliemann, sollte nicht versäumen, nebenher die mit kulturgeschichtlichen Stichworten artig garnierte, hübsch freche Bart-Show zu inspizieren.

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Großformatige Werbung auf hauptstädtischen U-Bahnhöfen für ein bescheiden auftretendes Kammerspiel. Ist selten, ist schön, ist richtig. Es betrifft den Film „Kirschblüten und rote Bohnen“ der japanischen Regisseurin Naomi Kawase. – Da ist ein junger Imbissbuden-Besitzer, den eine alte Dame hingebungsvoll bittet, bei ihm kochen zu dürfen. Keine könne wie sie die so beliebte, doch kompliziert herzustellende rote Bohnenpaste namens „An“ zubereiten. Stimmt! Der Chef der kleinen Küche ist sofort überzeugt und stellt die begnadete, offensichtlich einsame Alte ein. Und prompt floriert sein Laden wie nie zuvor. Die Paste ist der Renner! Schließlich aber ist zu beobachten, dass die Hände der tollen Köchin allmählich verkrüppeln. Es stellt sich heraus: Sie ist, was sie zu verheimlichen sucht, an Lepra erkrankt und lebt in einer Art Quarantäne-Station am Rande der Stadt. Ihr muss gekündigt werden, und alsbald stirbt sie.
In dieser zart hingetuschten Geschichte voller komischer, exotischer, liebevoller und auch schrecklicher Momente steckt eine schwere Tragödie. Naomi Kawase hat sie ohne viele Worte in eindringliche Bilder übersetzt. Ein gefühlvoller und doch unsentimentaler, stringent gebauter Film. Mit starken Schauspielern, deren zurückgenommenes Spiel aus dem routiniert Alltäglichen das Unalltägliche, Entsetzliche, aber auch das Wundersame wachsen lässt. Es ist eine stille, zwischen Kirschblütenschnee und Bohnenküchendunst angesiedelte Sache über unauflösliche Zwänge, zarte Zuneigung, schmerzliche Trennung, über Aufrichtigkeit und Lüge, Schuld, Reue. Über Lebensbejahung und Tod. Und dennoch schimmert auf alldem Schönheit. Wie tröstlich. Was für ein beglückender Beginn meines Kino-Jahrs.