19. Jahrgang | Nummer 5 | 29. Februar 2016

Ein neuer Kalter Krieg?

von Hubert Thielicke

Unruhen und Aufstand in Lettland – Rebellen übernehmen Orte im Grenzgebiet zu Russland, natürlich mit Unterstützung Moskaus. Der Konflikt bringt die Welt an den Rand eines Atomkrieges. Nur eine fiktive Story, ausgestrahlt von BBC unter dem Titel „World War Three: Inside the War Room“, wie SpiegelOnline berichtete. Die russische Regierung kritisierte den Film als gefährliche Provokation; sogar der lettische Außenminister wies ihn als Unsinn zurück. Ist es auch Wahnsinn, so hat es doch Methode, möchte man frei nach Shakespeare kommentieren. Vor der Münchner Sicherheitskonferenz (MSC, 12. bis 14. Februar) schlugen die Wogen hoch in Stabsquartieren, Think Tanks und Redaktionsstuben. Die NATO plant die größte Aufrüstung in Osteuropa seit Ende des Kalten Krieges, will tausende Soldaten in ihre östlichen Mitgliedsländer verlegen, wozu allein die USA die Ausgaben für die Stationierung ihrer Truppen im Vergleich zu 2015 auf 3,4 Milliarden Dollar vervierfachen. Das Londoner Internationale Institut für Strategische Studien verkündete in seinem Anfang Februar erschienenen Bericht, der Westen sei dabei, seine militärtechnologische Überlegenheit zu verlieren. Ergo sollten nun säumige NATO-Mitglieder ihre Militärausgaben kräftig anheben.
Eigentlich verständlich, wenn der russische Ministerpräsident Dmitri Medwedew in München von einem „neuen Kalten Krieg” sprach. Sicher, es geht nicht um einen Kampf der Systeme wie zu Zeiten des Kalten Krieges 1.0. Aber die Konfrontation zwischen NATO und Russland auf ist bereits weit fortgeschritten. Der Munich Security Report (MSR) konstatierte, dass die „Spannungen zwischen einigen der stärksten Staaten“ gestiegen wären und die Krise in den Beziehungen zwischen dem Westen und Russland sehr ernst sei. Angesichts zahlreicher militärischer Zwischenfälle sei das Risiko einer unbeabsichtigten Eskalation nicht zu übersehen. Dabei zitiert der Bericht die Einschätzung der Nuclear Threat Initiative, wonach die Gefahr der Anwendung von Kernwaffen in der Euro-Atlantischen Region steige.
Medwedews Warnung fand nicht nur auf der Konferenz einen breiten Widerhall; einige Medien bezeichneten sie als „aggressiv“, andere werteten sie als ein Zeichen für die Rückkehr Russlands auf die politisch-diplomatische Weltbühne. Der russische Präsident analysierte das zerrüttete Verhältnis zwischen Russland und dem Westen und kritisierte, dass der russische Vorschlag eines europäischen Sicherheitsvertrages wie auch die Meseberg-Initiative über ein EU-Russland-Komitee zu Außenpolitik und Sicherheit nicht umgesetzt wurden. Die heutige gefährliche Lage wäre zu vermeiden gewesen, hätte man die Hinweise Präsident Putins auf der Münchener Konferenz von 2007 ernst genommen. Aber wie so oft: USA und NATO ziehen selbst gern „rote Linien”, sind aber nicht bereit, solche der anderen Seite zu beachten, in diesem Fall das Vordringen der NATO-Militärpräsenz ins Glacis Russlands und die Destabilisierung der Ukraine.
Im Mittelpunkt der Münchner Debatten standen der Kampf mit dem islamistischen Terrorismus und im engen Zusammenhang damit der Krieg in Syrien, aber auch die Ukrainekrise und die Lage in Europa. Wie ein roter Faden zog sich das Verhältnis zwischen dem Westen und Russland durch die Konferenz. Während der MSR der wachsenden internationalen Rolle Chinas große Aufmerksamkeit widmete, spielte das Land auf der MSC eher eine marginale Rolle. Die chinesische Vertreterin bezeichnete die von den USA dominierte Weltordnung als „überdehnt” und erklärte selbstbewusst, dass China, falls es bedroht würde, heute mehr Gegenmittel zur Verfügung hätte.
Als Sachverwalter des Kampfes gegen den Terrorismus trat Frankreich in Gestalt von Ministerpräsident Valls auf, der von einer neuen Epoche des „Hyperterrorismus” sprach, einen Sicherheitspakt gegen die terroristischen Herausforderungen anregte und das russische Engagement ausdrücklich würdigte. Sein russischer Kollege pflichtete ihm bei, bedauerte aber auch westliche Versuche, Russland von einer entsprechenden Kooperation auszuschließen. Zugleich machte der Krieg in Syrien deutlich, dass dieses wie andere Probleme nicht ohne Russland zu lösen ist. Insbesondere die Zusammenarbeit der Außenminister Lawrow und Kerry führte zur Einigung der Syrien-Kontaktgruppe auf einen Dreipunkte-Plan zur Umsetzung der Resolution 2254 des UN-Sicherheitsrates. Erstens geht es um humanitäre Hilfe für die belagerten Städte, zweitens um die rasche Einstellung der Kampfhandlungen bei Fortsetzung des Kampfes gegen IS und Nusra-Front und drittens um den politischen Übergangsprozess. Die USA und Russland leiten die Arbeitsgruppe für den Waffenstillstand. Während auf humanitärem Gebiet erste Fortschritte zu verzeichnen sind, erscheint eine Lösung der politisch-militärischen Probleme problematisch. Die Kampfhandlungen wurden durch das Eingreifen der Türkei weiter angeheizt.
Unisono malten die Präsidenten Polens und der Ukraine, Andrzej Duda und Petro Poroschenko, sowie Litauens Präsidentin Dalia Grybauskaité das Gespenst einer „russischen Gefahr“ an die Wand und riefen zu einer verstärkten NATO-Militärpräsenz auf. Mit einem kritischen Unterton gegen Deutschland mahnte Duda partnerschaftliche und gleichberechtigte Beziehungen an und forderte die Einstellung des Pipelineprojektes „Nord Stream 2“. Die Beteuerung Poroschenkos, in der Ukraine kämen Reformen und der Kampf gegen Korruption voran, stieß selbst bei westlichen Teilnehmern auf Skepsis. Als weiterer Teilnehmer der „Präsidentenrunde“ merkte der finnische Präsident Sauli Niinistö trocken an, Russland sei an allen Konflikten zwischen Arktis und Syrien beteiligt und müsste eben auch bei deren Lösung dabei sein.
Die NATO wolle keine Konfrontation und einen neuen Kalten Krieg, meinte ihr Generalsekretär Jens Stoltenberg, ließ aber keinen Zweifel daran, dass man sich nicht mit der neuen Stärke Russlands abfinden wolle. Russland würde die europäische Sicherheitsordnung destabilisieren; die Antwort könne nur „mehr Verteidigung und mehr Dialog“ sein, also zurück zur Harmel-Doktrin von 1967. Allerdings wurde schnell klar, dass es wohl in erster Linie um die langfristige NATO-Aufrüstung geht. Aufmerksamkeit erregte dabei auch sein Verweis auf die eigene „nukleare Komponente“. Auf das Raketenabwehrprogramm wolle man nicht verzichten, entgegnete er dem Bundestagsabgeordneten Alexander Neu (DIE LINKE), der einwarf, dass nach dem Iran-Nuklearabkommen das Programm doch nicht mehr nötig sei. Aber Iran habe ja noch Raketen, so Stoltenberg. Auch die so beteuerte Dialogbereitschaft scheint bisher nicht über die Erörterung von militärischer Transparenz hinauszugehen. Den NATO-Russland-Rat bezeichnete der NATO-Generalsekretär als wichtig, man wolle mit Russland die Möglichkeit eines Treffens „sondieren“. Von Eile keine Spur. Davon hob sich das eher auf Vermittlung gerichtete Auftreten des deutschen Außenministers ab. Motto des deutschen OSZE-Vorsitzes sei „Dialog zu erneuern, Vertrauen neu aufzubauen, Sicherheit wieder herzustellen“, so Frank-Walter Steinmeier. Inwieweit sich das in einer konstruktiven Linie gegenüber Russland niederschlägt, bleibt abzuwarten. Auch US-Außenminister Kerry befleißigte sich eines eher konzilianten Tones, ließ aber keinen Zweifel an der harten Linie gegenüber Russland: die militärische Präsenz in Osteuropa werde ausgebaut, die ökonomischen Sanktionen müssten fortgesetzt werden.
Stellt sich die Frage nach der Nützlichkeit der MSC. Sicher, das Forum hat seit 1963, als es als „Wehrkundetagung“ die politische Bühne betrat, einen weiten Weg zurückgelegt. Es ist schon ein Wert an sich, wenn sich Führungspersönlichkeiten aus aller Welt treffen, etwa 600 waren es in diesem Jahr, darunter 30 Präsidenten und Ministerpräsidenten sowie etwa 60 Außen- und Verteidigungsminister. Immerhin gab es mit dem Übereinkommen zu Syrien sogar einen diplomatischen Erfolg. Die Diskussion in den Foren und auf den Gängen kann das gegenseitige Verstehen verbessern. Nicht zu übersehen aber auch, dass es hier in erster Linie um die transatlantische Partnerschaft geht, was in gewisser Weise auch antirussische Ausfälle erklären mag. Nicht zuletzt gegen ein zunehmend aggressiveres Verhalten der NATO richteten sich die Demonstrationen auf den Straßen und Plätzen der bayerischen Hauptstadt.