19. Jahrgang | Nummer 5 | 29. Februar 2016

Der Zeichner und Grafiker Arno Mohr und seine Schüler

von Klaus Hammer

Warum haben seine Blätter, die ebenso impulsiv wie präzise sind, eine so zarte, spröde und unverwechselbare Ausstrahlungskraft? Der vor 15 Jahren verstorbene Nestor der Berliner Zeichnung und Grafik Arno Mohr hat nicht gern von Gefühlen gesprochen, wo er doch eine strenge Disziplin am Werk wusste. Gleichwohl war die Sensibilität, eine hohe reizbare Empfindsamkeit, die Feinstimmung des Sensoriums, die Voraussetzung für seine Arbeiten.
Viele hat er, der langjährige Lehrer für Naturstudium und druckgrafische Techniken an der Kunsthochschule Berlin-Weißensee und Leiter der Grafik-Werkstatt (bis 1975), zeichnen und drucken, Maß halten gelehrt, die heute selbst anerkannte Künstler sind. Und doch sagte er von sich: „Meine Hochschule war und ist die Straße.“ Das spezifisch Berlinische war für ihn, der sein Leben lang im Osten Berlins zu Hause war, ein bestimmender Wesenszug seiner Kunst. Das Liebermann-Wort „Zeichnen heißt Fortlassen“ hat Mohr – besonders in den Lithografien – in eine ihm gemäße Form umgesetzt. Ein warmherziges Verhältnis zum Leben, sensitiv, pointenreich, aber pathosfrei, verband er mit der Knappheit und Prägnanz der Form, dem geschärften Blick für das menschlich Wesenhafte in Bewegung, Gestus und Haltung seiner Gestalten und für das Fluidum des Milieus. In der fast spielerischen Ungezwungenheit, der scheinbar flüchtigen, mit leichter Hand, oft als Bildstenogramm hingesetzten Zeichnung verbarg sich ein hohes Maß ständiger Lebensbeobachtung: „Ich habe mit den Augen mehr noch gezeichnet als mit der Hand.“ Das spannungsvolle, Raum, Licht und Farbe suggerierende Zueinander von gezeichneter und freier Fläche hatte noch der hoch betagte Künstler mit Tafelbildern zu demonstrieren gewusst. Doch ein Monumentalist war er nie gewesen. Er blieb der große Meister der kleinen Form.
Eine eigene Stellung nehmen die mit Feder, Kreide, Kohle hingeschriebenen, auch als Litho gestalteten Porträtskizzen ihm befreundeter Menschen, der Weigel, Brecht, Hanns Eisler, des Dresdner Zeichners Wilhelm Rudolph ein, in denen er in oft flüchtiger Geste Wesentliches über den Charakter auszusagen vermochte. In der Galerie der Berliner Graphikpresse wird ein großformatiges Pastell „Künstlerkneipe“ (um 1983) gezeigt, in dem Mohr – freundlich ein wenig karikierend – die von ihm geschätzten Künstlerkollegen versammelt hat. Da sitzen Brecht mit Lion Feuchtwanger, Fritz Cremer mit Otto Nagel, Zille mit Heinrich Mann, Käthe Kollwitz, Gerhart Hauptmann am Tisch und links sieht man Hanns Eisler am Klavier und neben ihm den Schauspieler-Sänger Ernst Busch.
Wie oft hat sich Mohr selbst gezeichnet: Aufgerichtet, über der Arbeit versunken, resignierend, aber nie sich aufgebend, vergeistigt, das Gesicht wie entmaterialisiert. Rechenschaft über sich selbst ablegend, verschlossen, in sich gekehrt, verletzbar, Zweifel und Selbstvergewisserung in einem. Immer wieder hat er tägliche Verrichtungen und das häusliche Umfeld der Menschen ins Auge gefasst. „Berlinerisch finde ich es, in seinem Quadrat, in seinem Bereich zu bleiben, von dem man etwas versteht“, war seine Überzeugung. Sein Weg führte ihn vom Arbeitsplatz und von der eigenen Wohnung zu den Berliner Kneipen, Kaffeehäusern und Gartenlokalen an der Spree, vom S-Bahnhof Hackescher Markt und der Weidendammer Brücke zur Oranienburger Straße, Chausseestraße und Unter den Linden, von der Friedhofsecke und dem kleinen Rummelplatz in Alt-Berlin zur Museumsinsel mit ihren imponierenden Bauten. Er nahm den „Einsamen Mann“ wie einen dunklen Punkt in der unendlichen Horizontale der Landschaft wahr, beobachtete aus der Ferne die „Kleine Unterhaltung“ zweier Frauen, winzigen Figuren mit einem nur angedeuteten Ambiente auf dem „leeren“ Blattweiß, den Ausflugsdampfer auf dem Müggelsee, die „Kiefern am See“, Weite und Kargheit der märkischen Landschaft demonstrierend. Er wählte einen „unscheinbaren“ Teilaspekt und führte ihn auf überraschende Weise weiter. Er komplettierte die Szene nicht zum Genrebild. Ihm „genügte“ ein fragmentarischer Stil, oft eine Minimalgeste nur.
Er hat mit Kohle und Kreide, Feder und Pinsel gezeichnet, die aquarellartig lavierenden Techniken oder den Mehrfarbendruck vollendet beherrscht. Als Meister druckgrafischer Techniken schnitt er ins Holz, radierte er oder bearbeitete er den Lithostein. In der Lithografie, seinem bevorzugten grafischen Ausdrucksmittel, nahm er die Tradition Munchs, Corinths, Slevogts und der Kollwitz wieder auf und entwickelte sie zu hoher Meisterschaft, einer Meisterschaft des Zeichnens und Druckens. Er machte die Lithografie wieder volkstümlich.
Ihm ging es nicht um experimentelle Tüfteleien, um eine Kultivierung grafischer Effekte, sondern die subjektive Beziehung zum Bildgegenstand war ihm wichtig, das Erfassen des Wesentlichen menschlicher Verhaltensweisen, die Verallgemeinerung in künstlerisch verdichteter Form. Das scheinbar Zufällige, das menschlich Intime des Vorganges hat er immer wieder eingefangen. So hat er auf den Lithostein seine auf Wanderungen durch Berlin und in seinem Umland empfangenen Erlebnisse und Beobachtungen niedergeschrieben: Spielende Kinder, einsame Spaziergänger, „Zwei Generationen im Park“, ein auf der Bank sitzendes altes Ehepaar und zwei junge Mädchen, die mit wippenden Röcken an ihm vorbeiziehen, im Regen an der Haltestelle Wartende. Bevorzugt hat er das Kreidelitho. Der Kreide verdanken seine Blätter das Spontane, die unmittelbare Frische der grafischen Handschrift, so die „Kreiselnden“, die das Wesenhafte des kindlichen Spiels, Hingabe und Selbstvergessenheit erfasst haben. Von früh an, erinnerte sich Arno Mohr, habe er mit Kreide auf den Stein gezeichnet. „Mit den Asphalt-Kritzeleien meiner Kindheit fing es an.“ Wer sich wie er die Unbefangenheit der Kinder bewahrt hatte, deren Kritzel- und Zeichenspuren auf Wänden, Tischen, Bänken und im Sand anonyme Druckstöcke bilden, deren positive Bilder in die Luft geschrieben sind, konnte einfach der Verführung zum Effekt nicht erliegen und nicht an technischen Problemen scheitern. Die Sprache der Radierung und Lithografie, ihre Sprödigkeit und Schönheit, nicht ihre ausgeklügelte Technik wird bei Arno Mohr sichtbar.
Das stille Medium der Zeichnung und Grafik haben viele von ihm gelernt. Die Poesie der Szene kann nur in künstlerischer Form überleben, sie beruht auf der freien Erfindung der Formelemente und dennoch ihrer klaren zeichnerischen Präsenz. Das zeigen die Blätter von einstigen Schülern Arno Mohrs und befreundeten jüngeren Kollegen, die im Kabinett der Galerie zu sehen sind: Manfred Butzmann („Giebelwand mit Schatten“, Farblitho, 1988), Linde Bischoff („Zigeuner“, Farblitho, 1988), Peter Hoppe („Zum Paris-Urteil“, Farblitho, 1987), Konrad Knebel (Stadtlandschaften, Temperablätter), Ruth Knorr, Ronald Paris („Lear“, Litho, 1985), Christine Perthen („Kollwitzplatz heute“, Radierung, 1983), Volker Pfüller, Nuria Quevedo („Das Leben ist Traum“, Litho, 1989), Hans Ticha („Girls“, Farbsiebdruck, 1996) und Dieter Tucholke („Spuren und Wände“, Farboffsetlitho). Es sind Arbeiten sarkastischer Experimentierlust, ironisch figurativ, aber auch grafische Metaphern, bis an den Grenzen zunehmend verfliegender Gegenständlichkeit, deren Reste Verwandlung und Verzauberung, Traum und Sehnsucht suggerieren.

Arno Mohr und seine Schüler. Galerie der Berliner Graphikpresse, Silvio-Meier Str. 6, 10247 Berlin, Mi – Fr 13 – 19 Uhr, Sa 11 – 15 Uhr; bis 11. März, Faltblatt.