19. Jahrgang | Nummer 5 | 29. Februar 2016

Briefe aus der Menschenmühle

von Franz Marc

Neujahr 16!

Liebstes, gute liebes, neues Jahr!
Also heut läuft man schon mit dem neuen Gesicht 16 herum! Die Welt ist um das blutigste Jahr ihres vieltausendjährigen Bestehens reicher. Es ist fürchterlich, daran zu denken; und das alles um nichts, um eines Mißverständnisses willen, aus Mangel, sich dem Nächsten menschlich verständlich machen zu können! Und das in Europa!! Man muß wirklich alles umlernen, neudenken, um mit dieser ungeheuerlichen Psychologie der Tat fertig zu werden, und sie nicht nur zu hassen, zu beschimpfen und zu verhöhnen oder zu beweinen, sondern ursächlich zu begreifen und – Gegengedanken zu bilden.
[…]

 

17.II.1916

Liebe Maman,
Ich verstehe sehr, wenn Du so ruhig vom Tode sprichst wie von etwas, was Dich nicht schreckt. Ich fühle genauso. In diesem Krieg hat man’s ja an sich erproben können, – eine Gelegenheit, die das Leben einem sonst selten bietet, da man im täglichen – – – Leben die Todesgefahren meist nicht sieht und zum mindesten nicht an sie glaubt. Es ist mir aber im Kriege nie eingefallen, die Gefahr und den Tod zu suchen, wie ich es in früheren Jahren des öfteren getan habe, – damals ist der Tod mir ausgewichen, nicht ich ihm; aber das ist lange vorbei! Heute würde ich ihn sehr wehmütig und bitter begrüßen, nicht aus Angst oder Unruhe vor ihm, – nichts ist beruhigender als die Aussicht auf Todesruhe – sondern weil ich ein halbfertiges Werk liegen habe, das fertig zu führen mein ganzes Sinnen ist. In meinen ungemalten Bildern steckt mein ganzer Lebenswille.
[…]

 

27.II.16.

L.,
nun sind wir mittendrin in diesem ungeheuerlichsten aller Kriegstage. Die ganzen französischen Linien sind durchbrochen. Von der wahnsinnigen Wut und Gewalt des deutschen Vorsturmes kann sich kein Mensch einen Begriff machen, der das nicht mitgemacht hat. Wir sind im Wesentlichen Verfolgungstruppen. Die armen Pferde! Aber einmal mußte dieser Moment ja kommen, in dem alles eingesetzt wird; aber daß es gelang (und es wird sicher noch weiter gelingen) und zwar gerade am stärksten Punkt der franz. Front: Verdun, – das hätte niemand geahnt, das ist das Unglaubliche.
[…]

 

29.II.16.

L., eben habe ich eine ruhige Minute in einem französischen Unterstand, um Dich zu grüßen, was ich so hundertmal am Tage tue. Sei versichert, es geht mir nicht schlecht. Es ist halt doch was anderes, als Offizier einen Bewegungsfeldzug mitzumachen wie ehemals als U.-Off.! Aber die Arbeit und Verantwortung ist natürlich oft riesig. Wir sind jetzt zu zweit, Lt. M. und ich und haben doch zuweilen kaum die Kraft, unsrer Riesenkolonne die innere Organisation zu erhalten. Ich kann allerdings nicht leugnen, daß diese Arbeit, die viel moralische Kraft erfordert, für mich nicht ohne Reiz ist. Solange der Manöverbetrieb in L. war, war es mir oft innerlich sehr peinlich. Jetzt aber weiß an, wozu man Offizier ist und auf seinem Posten steht. Über das eine freu ich mich: daß meine Nerven von einer erstaunlichen Unberührtheit sind. Von meiner Verwendung als Artilleriebeobachter kann jetzt natürlich gar keine Rede sein, – Du brauchst Dich in keiner Weise zu ängstigen. Ich bin neugierig, wie diese ganze Operation noch hinausgeht, – wir sind gänzlich ohne Nachrichten. […] Dieser tiefbeschämende schmachvolle Krieg muß ja jetzt bald ein Ende nehmen. Ich bin ganz vertrauensvoll.
[…]

 

29.II.16.

L., […] Ich kann Dir nur Beruhigendes von mir berichten; ich fühl mich körperlich sehr frisch und erhalte mir auch mitten in diesem Kriegsgetümmel mein inneres Gleichgewicht. Immer kaut man an dem immer rätselvolleren Rätsel herum, wie dieser Krieg nur möglich ist! Es ist schrecklich. – Aber alle Dinge haben ihr Ende, auch die schlechtesten und furchtbarsten.
[…]

 

2.III.16

L.,
ich benutze die Gelegenheit eines Krankheitsurlaubes, um Dir auf diesem Wege sichere Nachricht von mir zu geben. Ich vermute natürlich Postsperre. Wir stehen natürlich mit in der Riesengeschichte im Westen, schauerlich und ungeheuerlich, wie es Worte nie werden schildern können. Ich führe mit Lt. M. zusammen unsre Kolonne unter schwierigsten Umständen; aber es geht alles. Und gottlob geht es bis jetzt auch gut. Wir sind 10 Klm. Durch die französische Front durch. Wir hausen nachts in den französischen Unterständen. Die Pferde sind seit unserm Abmarsch (25.) nicht mehr aus dem Geschirr gekommen.
Ich selbst fühle mich wohl und frisch, – meine Nerven sind unberührt, daß ich oft selbst staunen muß; Dinge, die mein eigentliches wahres Wesen nichts angehen, berühren mich überhaupt nicht mehr. Jetzt ist übrigens der Moment gekommen, in dem ab und zu ein gutes Päckchen (Schokol. Gilka, Stück Hartwurst u. dergl.) hochwillkommen sein wird. Wie mag nur diese Riesensache hinausgehen?! Ich zweifle nicht, daß Verdun fallen wird, – aber ob es dann gelingt, den grausamen Stoß ins Herz des armen Frankreich zu führen! Seit Tagen sehe ich nichts als das Entsetzlichste, was sich Menschenhirne ausmalen können.
[…] Bleib nur ruhig und sorg Dich nicht; ich komme Dir wieder. – Der Krieg geht in diesem Jahr zu Ende.

 

4.III.16.

L., denk Dir: heute bekam ich ein Briefchen von meinen Quartierleuten in Maxstadt (Lothr.), das Deinen Geburtstagsbrief enthielt! […] Du schriebst so lieb darin; ja, dieses Jahr werde auch ich zurückkommen in mein unversehrtes liebes Heim, zu Dir und zu meiner Arbeit. Zwischen den grenzenlosen schaudervollen Bildern der Zerstörung, zwischen denen ich jetzt lebe, hat dieser Heimkehrgedanke einen Glorienschein, der gar nicht lieblich genug zu beschrieben ist. Behüte nur dies mein Heim und Dich selbst, Deine Seele und deinen Leib und alles, was mir gehört, zu mir gehört!
Momentan hausen wir mit der Kolonne auf einem gänzlich verwüsteten Schloßbesitz, über den die ehemalige französische Frontlinie ging. Als Bett habe ich einen Hasenstall auf den Rücken gelegt, das Gitter weg und mit Heu ausgefüllt und so in ein noch regensicheres Zimmer gestellt! Natürlich hab ich genug Decken und Kissen dabei, so daß sich ganz gut drin schläft. Sorg Dich nicht, ich komme schon durch, auch gesundheitlich. Ich fühl mich gut und geb sehr acht auf mich, Dank viel-, vielmal für den lieben Geburtstagsbrief!

Der Nachmittag des 4. März 1916 war bei Verdun ein strahlend schöner Vorfrühlingsnachmittag. Der gerade 36 Jahre alt gewordene Leutnant Franz Marc – er gehörte zur Munitionskolonne des 1. Bayerischen Feldartillerieregimentes – unternahm mit seinem Burschen in der Nähe von Braquis, etwa 15 Kilometer von der Frontlinie entfernt, einen Erkundungsritt, als ihm ein kleiner Splitter einer einzigen, schier zufällig einschlagenden Granate die linke Schläfe durchschlug. Er starb wenige Tage nach Beginn der wohl sinnlosesten Schlacht eines vollkommen sinnlosen Krieges. Das Gemetzel war Ausgeburt der Massenmörderhirne des preußischen Kronprinzen Wilhelm und des Generalstabschefs Erich von Falkenhayn, dessen vor Verdun praktizierte „Ermattungsstrategie“ schon von den Zeitgenossen „Blutpumpe“ und „Knochenmühle“ genannt wurde. Die Schlacht begann am 21. Februar 1916 und endete erst am 19. Dezember desselben Jahres. Vor Verdun fielen auf beiden Seiten der Front mindestens 317.000 Soldaten. Die genaue Zahl wird sich wohl nie feststellen lassen. Der Tod des Malers Franz Marc löste bei vielen Künstlern und Kunstfreunden Entsetzen aus. Marcs Ende wurde zum Inbegriff einer skrupellos verheizten jungen Generation.
Die Briefe Franz Marcs wurden für diesen Beitrag leicht gekürzt. Die sprachlichen Besonderheiten wurden nicht angetastet, die textlichen Hervorhebungen stammen von Marc.

Wolfgang Brauer