19. Jahrgang | Nummer 5 | 29. Februar 2016

Anfang 1990: die SPD, Moskau und die NATO-Frage

von Karsten Voigt

In seinem jüngsten Interview mit der BILD-Zeitung zitierte Russlands Präsident Wladimir Putin aus dem unveröffentlichten Protokoll eines Gespräches, das Egon Bahr am 27. Februar 1990 in Moskau mit dem Deutschland-Experten im Stab Gorbatschows, Valentin Falin, geführt hatte. Darin hatte sich Bahr dezidiert gegen eine Osterweiterung der NATO ausgesprochen und dies mit folgendem persönlichen Statement versehen: „Wenn Sie – und damit die Sowjetunion – […] mit einer Erweiterung der NATO einverstanden sind, werde ich nie mehr nach Moskau kommen.“ Aus der Wiedergabe des Interviews auf www.russland.ru entnahmen wir, dass unser Autor Karsten Voigt an diesem Gespräch ebenfalls teilgenommen hat. Wir baten ihn um seine Erinnerungen.
Die Redaktion
Am 27. und 28. Februar 1990 waren Egon Bahr und ich in Moskau. Im Auftrage der SPD-Bundestagsfraktion wollten wir uns dort über die deutschlandpolitischen Vorstellungen der sowjetischen Führung informieren. In seinem Interview mit der BILD-Zeitung im Januar dieses Jahres zitiert Putin einzelne Äußerungen Egon Bahrs aus einem von mehreren Gesprächen. Putin lässt dabei offen, wie die sowjetische Seite auf Egon Bahrs Vorschläge reagiert hatte. Nicht überraschend, zitiert Putin doch aus einer Aufzeichnung der sowjetischen Seite. Wie ich seinen Zitaten entnehmen kann, stimmen diese im Wesentlichen mit dem von Egon Bahr autorisierten Protokoll unserer Seite überein.
Die Gespräche von Vertretern der SPD in Moskau müssen im Zusammenhang von zahlreichen anderen Aktivitäten im Rahmen der damaligen Phase ihrer Friedens- und Entspannungspolitik gesehen werden.
In Deutschland erinnert man sich vor allem an die Verhandlungen der SPD-Grundwertekommission mit der Akademie für Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED und an die abrüstungspolitischen Gespräche zwischen Delegationen der SPD-Bundestagsfraktion und der SED. Diese Gespräche zwischen Vertretern der SPD und der SED fanden wegen der großen Bedeutung der Beziehungen zwischen den beiden deutschen Staaten mehr Aufmerksamkeit als Gespräche mit der ungarischen kommunistischen USAP über wirtschaftliche Konzepte, mit der tschechoslowakischen KPČ über Fragen des Umweltschutzes, der polnischen PVAP über Fragen der gesamteuropäischen Sicherheit und mit der KPdSU über Fragen der Sicherheit und Abrüstung und auch über entwicklungspolitische Fragen.
Diese zahlreichen Gespräche mit Vertretern von kommunistischen Parteien, von Parlamenten und Repräsentanten staatlicher Institutionen wurden durch noch intensivere Kontakte mit westeuropäischen Parteien, Parlamenten und Regierungen und durch intensive Konsultationen mit Vertretern der USA ergänzt. Warum dieser Hinweis? Die Führung der SPD sah damals die deutsch-deutschen Beziehungen immer im Zusammenhang mit ihren Beziehungen innerhalb der EU und innerhalb der NATO und damit insbesondere zu den USA.
Mit meinen damaligen Funktionen verkörperte ich diese in der SPD vorherrschende Denkweise: Ich nahm an den abrüstungspolitischen Verhandlungen der SPD-Bundestagsfraktion mit der SED teil, ebenso aber an den Gesprächen mit der KPdSU und der PVAP. Ich war Vorsitzender der deutsch-sowjetischen Parlamentariergruppe im Bundestag, zugleich aber Vorsitzender des Verteidigungsausschusses in der Parlamentarischen Versammlung der NATO: Bis Ende 1989 ergänzten die SPD-Ostpolitik und ihre EU- und NATO-Politik einander. Dieser Zusammenhang blieb bis weit in das Jahr 1989 hinein unumstritten. Doch die Entwicklungen in Osteuropa und insbesondere in der DDR stellten bisherige Gewissheiten infrage. Deshalb ist es auch nicht erstaunlich, dass in der Führung der SPD, nach dem Fall der Mauer bis hin zur Einigung auf das „Zwei-plus-Vier-Abkommen“ der Zusammenhang zwischen sicherheitspolitischer West-Integration und gesamteuropäischer Sicherheitsordnung über einige Monate hinweg kontrovers diskutiert wurde.
Der sich beschleunigende Umbruch in Osteuropa hatte schon in den Monaten vorher zu kuriosen Situationen geführt: Beim letzten Treffen der abrüstungspolitischen Arbeitsgruppe der SPD- Bundestagsfraktion und der SED am 14. Juli 1989 in Ost-Berlin war es zu einer Kontroverse zwischen Herrmann Axen und mir darüber gekommen, wer die besseren Informationen über die Entwicklungen in der sowjetischen Führung unter Gorbatschow habe, die SED oder die SPD. Anlass war das von der DDR verhängte Einreiseverbot für Wjatscheslaw Daschitschew. Er war Abteilungsleiter am Moskauer Institut für internationale und wirtschaftliche Beziehungen und meiner Meinung nach einer der wichtigen deutschlandpolitischen Berater Gorbatschows. Ich hatte mehrfach mit Daschitschew gesprochen und wusste, dass er Leiter einer Arbeitsgruppe war, die sich mit der Entwicklung von deutschlandpolitischen Optionen für die neue sowjetische Führung befasste. Das Einreiseverbot der DDR hielt ich für einen schweren politischen Fehler. Herrmann Axen verteidigte diese Entscheidung mit dem Hinweis auf Daschitschews völlig irrelevante Rolle.
Am 2. und 3. Oktober 1989 traf sich wenige Tage vor dem 40. Jahrestag der DDR die gemeinsame Arbeitsgruppe von SPD und KPdSU in Bonn. An ihr nahmen von Seiten der SPD Egon Bahr, Horst Ehmke und ich teil, auf Seiten der KPdSU unter anderem Valentin Falin. Alle Teilnehmer des Treffens äußerten sich besorgt über den mangelnden Reformwillen in der DDR. Mehrere Teilnehmer befürchteten eine Eskalation der Konflikte in der DDR. In diesem Kontext sprachen unsere sowjetischen Gesprächspartner mit uns ganz offen über verschiedene denkbare Nachfolger für Honecker. Ebenso werde ich nie vergessen, wie mich Anatolij Tschernajew, ein außenpolitischer Berater Gorbatschows am 22. November 1989 in Barcelona am Rande eines Kongresses über die Perestroika mit Hinblick auf die Entwicklungen in der ČSSR nach Rolle der SPD und der Friedrich-Ebert-Stiftung beim Übergang von der Diktatur zur Demokratie in Spanien und Portugal fragte.
Egon Bahr vertrat in dieser Übergangszeit stets sehr klar seine konzeptionellen Prioritäten: möglichst schnelle und große Schritte in Richtung auf eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung unter Einschluss der Sowjetunion. Ich unterstützte dieses Ziel. Für mich waren aber die multilaterale Einbindung der Sicherheitspolitik Deutschlands und die Verhinderung einer Re-Nationalisierung anderer europäischer Staaten noch wichtiger. Während der gesamten Entspannungspolitik, bis hin zum Fall der Mauer, ergänzten sich beide Prioritäten. Das änderte sich mit dem Fall der Mauer und dem Beginn der Überwindung der Teilung Deutschlands.
Seit dem späten Frühjahr 1989 war mir bewusst geworden, dass der deutschlandpolitische Status quo zu wanken begann. Ich fing daher an, innerhalb der SPD dafür zu werben, Pläne für ein konföderatives Zusammenwachsen der beiden deutschen Staaten zu entwickeln. Wenn sich der konföderative Prozess über Jahre erstrecken würde, dann hätten die Bundesrepublik und die DDR in dieser Zeit unterschiedlichen Bündnissen angehören können. In diesen Jahren des Überganges bestünde dann vielleicht auch eine Chance, neue und effektive gesamteuropäische Sicherheitsstrukturen entwickeln können.
Dass derartige Vorstellungen auf erheblichen Widerstand stoßen würde, war mir völlig klar: Die meisten meiner Gesprächspartner in Westeuropa und in den USA hatten überhaupt kein Interesse daran, um der Vereinigung der beiden deutschen Staaten willen ihre Sicherheitspolitik grundlegend zu verändern.
Ab Dezember 1989 sah ich die Chance für eine bundesstaatliche Einheit Deutschlands. Wenn dieses Ziel erreichbar sein würde, dann zog ich es einer konföderativen Überwindung der Spaltung Deutschlands vor. Damit aber stellte sich die Frage nach der sicherheitspolitischen Einbindung des dann vereinigten Deutschlands. Eine Neutralisierung hielt ich ebenso wie Egon Bahr und Horst Ehmke wegen der damit verbundenen Gefahr einer Re-Nationalisierung nicht für erstrebenswert. Was aber dann? Eine Zustimmung der Sowjetunion zur Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschlands in der NATO hielt ich damals noch für undenkbar.
Im Bewusstsein dieser ungelösten Frage bereitete ich mich auf die Münchener Sicherheitskonferenz im Januar 1990 vor. Dort sollte ich am 3.2.1990 die Hauptrede für die SPD halten. In meinem Manuskript trat ich noch für den offiziellen Standpunkt der SPD, der das vereinigte Deutschland eingebettet in eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung sah, ein. In der auf meinen Vortrag folgenden Diskussion sprach ich dagegen von der Möglichkeit der Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschlands in der NATO, zumindest für eine Übergangszeit, verbunden mit Schritten in Richtung auf eine gesamteuropäische Sicherheitsordnung und Vereinbarungen über eine engere Kooperation mit der Sowjetunion.
Wie kam es zur Änderung meiner Auffassungen? Am 27.1.1990 war ich nach Washington geflogen. Dort hatten mich Steve Hatley und Bob Blackwill (beide kannte ich seit vielen Jahren) im Nationalen Sicherheitsrat (NSC) ausführlich über die amerikanischen Überlegungen für künftige Zwei-plus-Vier-Verhandlungen informiert. (Ein entsprechender Vorschlag wurde dann am 13.2.1990 bei einem KSZE-Treffen in Ottawa beschlossen.) In einem anschließenden längeren Vier-Augen-Gespräch erläuterte mir Bob Blackwill, der damals deutschlandpolitischer Berater von Präsident Bush war, wie die USA glaubten, die sowjetische Führung dazu zu bewegen, der Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschlands in der NATO zuzustimmen.
Unser Gedankenaustausch hatte mit der Feststellung begonnen, dass wir beide wegen der geschichtlichen Erfahrungen und des großen Gewichts eines vereinigten Deutschlands in Europa gegen eine deutsche Neutralität seien. Es läge im Interesse aller Nachbarstaaten Deutschlands und wohl auch der Sowjetunion, die deutsche Sicherheits- und Verteidigungspolitik in multilaterale Strukturen einzubetten.
Blackwill fragte mich dann, ob ich trotz dieser Übereinstimmung in Versuchung geraten würde, wenn es doch nur eine Chance auf Wiedervereinigung gäbe, wenn Deutschland neutral würde. Ich antwortete, dass ich zwar gegen ein neutrales Deutschland sei, ich – vor eine solche Alternative gestellt – aber vielleicht doch in Versuchung geraten konnte. Er bemerkte daraufhin, dass ich anders als andere Deutsche wenigstens ehrlich sei. Deshalb sei es umso wichtiger, von vornherein eine derartige Alternative zu verhindern.
Blackwill fuhr fort: Die Entwicklung einer neuen gesamteuropäischen Sicherheitsordnung als Alternative zu NATO und Warschauer Pakt sei unrealistisch. Die europäischen Mitglieder der NATO hätten kein Interesse daran, wegen der Wiedervereinigung Deutschlands auf die NATO zu verzichten und ihre Sicherheit stattdessen von einer neuen gesamteuropäischen Sicherheitsstruktur abhängig zu machen. Auch die USA seien am Fortbestand der NATO interessiert. Die sowjetische Führung sei zwar gegen eine Mitgliedschaft eines vereinigten Deutschlands in der NATO, sie hätte aber einer keinerlei realistische Alternativen anzubieten, mit denen eine effektive multilaterale Einbindung Deutschlands gewährleistet werden könne. Gegen die Entwicklung einer völlig neuen Sicherheitsstruktur für Europa spräche auch der Zeitfaktor: Der Druck auf eine schnelle Vereinigung Deutschlands wachse aufgrund der Entwicklungen in der DDR. Die USA sähen keinerlei Grund dafür, diesen Zeitdruck von außen her künstlich zu verringern: Sie seien Befürworter der Vereinigung Deutschlands selbst dann, wenn sie sich schneller vollzöge, als man noch vor wenigen Wochen gedacht habe. Unter diesen Umständen sei es durchaus realistisch anzunehmen, dass die sowjetische Führung ihren bisherigen Widerstand gegen eine NATO-Mitgliedschaft aufgeben würde, dies umso mehr als sie generell an guten Beziehungen zu den USA interessiert sei. Es sei deshalb auch wichtig, die Sowjetunion im weiteren Prozess nicht zu isolieren.
Ich fand diese Argumente Bob Blackwills überzeugend.
Nach meiner Rückkehr nach Bonn sprach ich in der Arbeitsgruppe Außenpolitik der SPD-Bundestagsfraktion über die Änderung meiner Haltung und die Gründe hierfür. In den folgenden Wochen gelang es mir als Vorsitzender der Arbeitsgruppe allmählich eine Mehrheit der SPD-Außenpolitiker von diesem Konzept zu überzeugen. In den Tagen nach der Münchener Sicherheitskonferenz warb ich dann auch öffentlich in mehreren Interviews dafür, die Mitgliedschaft des künftigen Deutschlands in der NATO zumindest für eine längere Übergangszeit ins Auge zu fassen und gleichzeitig für eine begrenzte, kürzere Zeit die weitere Stationierung von sowjetischen Truppen in Ost-Deutschland zu vereinbaren. Egon Bahr und DDR-Außenminister Meckel widersprachen mir damals.
Am 14.2. und 15.2.1990 weilte ich auf einer Sitzung des NATO-Rates in Brüssel. Zu dieser Sitzung war ich als Vorsitzender des Verteidigungsausschusses der Parlamentarischen Versammlung der NATO eingeladen worden. Neu war aber auch: Diese Sitzung diente Gesprächen mit Falin, damals Leiter der internationalen Abteilung der KPdSU, General Lobow, dem damaligen Oberkommandierenden des Warschauer Paktes, und Marschall Achromejew. Mit allen dreien führte ich anschließend Einzelgespräche. Ich erinnere mich insbesondere an das mit Marschall Achromejew (ihn kannte ich bereits von früheren Aufenthalten in Moskau). Er argumentierte gegen meine sicherheitspolitischen Vorstellungen für ein vereintes Deutschland. Das Gespräch mit ihm verlief in der Sache sehr kontrovers. Aber es war zugleich auf beiden Seiten von großer Sympathie geprägt.
Als Egon Bahr und ich schließlich am 27. und 28. Februar nach Moskau flogen, wusste die SPD-Führung, dass wir in Bezug auf den sicherheitspolitischen Status des Vereinigten Deutschlands unterschiedliche Meinungen vertraten. Dass war einer der Gründe dafür, dass wir als gemeinsame Delegation benannt worden waren.
In Moskau wurden wir im ehemaligen Gästehaus des Zentralkomitees, das jetzt Hotel Präsident hieß, untergebracht. Am Abend vor dem Beginn der offiziellen Gespräche trafen wir uns im Hotel mit dem Vorsitzenden der SDP, der Sozialdemokratischen Partei der DDR, mit Ibrahim Böhme. Nach dem Gespräch mit ihm sagte mir Egon Bahr, dass er eine weitere Verabredung habe. Am nächsten Morgen erfuhr ich von ihm, dass er sich noch mit Valentin Falin getroffen hatte.
Der wichtigste Termin war meiner Meinung nach das Gespräch mit Außenminister Schewardnadse am 28.2. In diesem Gespräch erläuterte Egon Bahr seine Vorstellung von einem europäischen Sicherheitssystem mit einem europäischen Oberkommando. Er behauptete, dass Genscher damit einverstanden sei, dies nur nicht öffentlich zu sagen wage. Das vereinigte Deutschland würde nicht mehr in gegeneinander gerichteten Bündnissen eingebunden sein, sondern die Einbindung würde über das europäische Sicherheitssystem erfolgen. Wenn Schewardnadse, Genscher und Bush zustimmen würden, dass das Gebiet der Bundesrepublik in der NATO verbleibe, dann sei er einverstanden, wenn er wüsste, wie lange dieser Quatsch andauern solle (so laut unserem Protokoll). Schewardnadse ging auf diese Argumentation von Egon Bahr nur weitschweifig ein. Seine Äußerungen erweckten in mir den Eindruck, dass Schewardnadse mehr an den Beziehungen zu den USA als an dem von Egon Bahr vorgetragenen sicherheitspolitischen Konzept interessiert war.
Aber Egon Bahr hakte nach: Wenn es noch die Idee des Europäischen Hauses gebe, müsse bestimmt werden, wie die Sicherheit darin aussehen solle. Würde sich die Sowjetunion für den Verbleib Deutschlands in der NATO aussprechen, dann würde auch die SPD ihre Position umstellen und umfallen. „Die Sowjetunion wird nicht umfallen“, warf Schewardnadse daraufhin ein. Da ich mit Egon Bahr nicht einverstanden war, warf ich laut Protokoll im Anschluss ein: Aus meiner Sicht werde es die Bündnisse auch dann noch geben, wenn es bereits ein vereinigtes Deutschland gibt. Meiner Erinnerung nach habe ich dann noch hinzugefügt (diese Bemerkung ist aber nicht in das Protokoll aufgenommen worden), dass das vereinigte Deutschland dann auf absehbare Zeit der NATO angehören werde.
Am Tage zuvor, beim Gespräch mit dem für Außenpolitik zuständigen Mitglied des Politbüros, Alexander Jakowlew, hatte Bahr seine Vorstellungen ebenfalls ausführlich erläutert. Da Jakowlew nur ein begrenztes Interesse und eine begrenzte Kenntnis hatte sowie vor allem an wirtschaftspolitischen Fragen interessiert zu sein schien, überließ er es Falin, ergänzend zu fragen, zu erläutern oder Egon Bahr zuzustimmen. Bahr stellte fest: Kohl möchte die NATO bis zur Oder haben, auch Genscher würde dies mit seinem modifizierten Vorschlag endgültig machen. Wenn die Sowjetunion dem zustimme, dann komme er nicht mehr nach Moskau. (Bahr ist aber später dann doch wieder nach Moskau geflogen.)
Ein Gespräch am 28.2. mit Marschall Achromejew verlief ähnlich wie die anderen: Egon Bahr erläuterte sein Konzept. Achromejew stellte Fragen, ohne präzise eigene Vorstellungen darzulegen.
Mein zusammenfassender Eindruck von den Gesprächen in Moskau war, dass die sowjetische Führung zu diesem Zeitpunkt kein eigenes Konzept für die sicherheitspolitische Einbettung des vereinigten Deutschlands hatte. Sie war zwar mit der Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands in der NATO nicht einverstanden, hatte dem aber keine überzeugenden Alternativen entgegen zu setzen. Außerdem schienen ihr damals die Beziehungen zu den USA und ihre wirtschaftlichen Probleme wichtiger zu sein. Als ich aus Moskau abflog, war ich mehr als zuvor davon überzeugt, dass die sowjetische Führung letztlich einer Mitgliedschaft des vereinigten Deutschlands in der NATO zustimmen würde.
Einen Eindruck davon, wie sehr sich bisher für unveränderlich gehaltene Orientierungen veränderten, hatte mir nicht zuletzt ein von der NVA im Moskau gegebener Empfang vermittelt: Wir hatten uns in der Botschaft der DDR zu einem Gespräch mit Botschafter König verabredet. Er war bis kurz zuvor auch Mitglied des ZK der SED gewesen. Jetzt erläuterte er unserer Delegation Aspekte der aktuellen Politik der Sowjetunion. Das Gespräch verlief in angenehmer Atmosphäre. Er musste unseren Gedankenaustausch aber beenden, um zu dem bereits erwähnten Empfang der NVA aufzubrechen. Wir äußerten sofort unser Interesse daran, ihn zu begleiten.
Als Egon Bahr und ich den großen Saal, in dem der Empfang stattfand, betraten, wurden wir sofort aufmerksam beobachtet. Nach wenigen Minuten lösten sich zuerst zahlreiche Frauen von NVA-Offizieren, die bis zu dem Zeitpunkt mit den weiblichen Ehepartnern ihrer Kollegen aus den Streitkräften der Truppen des Warschauer Paktes geredet hatten, von diesen los und gingen auf uns zu. Bald bildeten sich Trauben von NVA-Offizieren und deren Frauen um Egon Bahr und mich herum. Wir wurden aus mir völlig nachvollziehbaren Gründen vor allem nach dem künftigen Schicksal der NVA und ihrer Offiziere befragt. Immer mehr Offiziere der Roten Armee und ihrer Bündnispartner standen nun allein im Saal: Die Entwicklungen in der DDR und im deutsch-deutschen Verhältnis begannen offensichtlich, auch in der NVA bisherige Loyalitäten aufzulockern.
Was für die NVA galt, galt erst recht für die Presse der DDR: Am 1.3.1990 erschien in der außenpolitischen Zeitschrift der DDR, Horizont, ein Interview mit mir. In ihm sprach ich mich dafür aus, dass das vereinigte Deutschland politisch insgesamt zur NATO gehören solle. Vom Territorium der bisherigen DDR sollten die sowjetischen Truppen abgezogen, jedoch keine Truppen der NATO dort stationiert werden. In West-Deutschland sollten aber wie bisher Truppen der USA, Frankreichs und Großbritanniens stationiert bleiben. Zeitgleich müssten Vereinbarungen über eine enge Kooperation mit der Sowjetunion abgeschlossen werden. Mit diesen Vorstellungen lag ich schon sehr nahe bei den später in den zwei-plus-vier-Verhandlungen vereinbarten Regelungen.