18. Jahrgang | Nummer 25 | 7. Dezember 2015

Hybris und Pathos im Echo von Paris

von Stephan Jakubowski

Die schrecklichen Anschläge radikal-islamistischer Terroristen am 13. November in Paris haben Europa im Kern seiner selbst getroffen und zum Teil bis ins Mark erschüttert. Im Echo von Medien und Gesellschaft wird sich nun mit Parolen und dem Bekenntnis zu einem Lifestyle, der konsumiert statt zu hinterfragen, auf die freiheitlichen, demokratischen, ja die europäischen Werte eingeschworen und innerhalb einer breiten Querfront auf Linie gebracht.
Nicht unterwerfen, sondern kämpfen“ heißt es bei Springer-Chef Mathias Döpfner. Sein Kommentar in der Welt spiegelt ungewollt in voller Pracht die traurige Realität politischer Partizipation einer bürgerlichen Mitte wider, deren demokratisches Verständnis sich auf das Ändern von Profilbildern bei Facebook und das Applaudieren für indifferente Bekenntnisse a la #notinmyname reduziert. Demnach „brauchen [wir] keinen linken oder rechten Populismus. Sondern eine Radikalisierung der gesellschaftlichen Mitte“.
Radikalisierung der Mitte – was soll das sein? Und wer oder was ist das, diese Mitte? Eine Konkretisierung bleibt Döpfner schuldig. Seine Polemik jedoch mit ihrem Antagonismus von Inhalt und Sprache hat durchaus ein unerwartet aufrichtiges Ergebnis. Der Autor schafft mit der sprachlichen Gegensätzlichkeit von Mitte und Radikalität, gepaart mit der inhaltlichen Divergenz zwischen eben jener hohlen Phrase und der Ablehnung von Populismus letztlich folgendes: die punktgenaue Beschreibung der werte- wie inhaltslosen bürgerlichen Mitte der Gesellschaft.
In markiger „Klagt nicht, kämpft“-Manier wird so eine Nähe zur sich längst vollziehenden Radikalisierung jener gesellschaftlichen Mitte geschaffen, die jeden Montag und an wechselnden weiteren Wochentagen unter anderem in Leipzig und Dresden stattfindet. Die selbsterkorenen Verteidiger unserer vielfach betonten Werte sehen sich in einem diffusen Lichte der Rechtschaffenheit gegenüber internen wie externen Aggressoren. Die mangelnde Präzisierung des Begriffs der „Mitte“ im Döpfner-Beitrag reiht sich in die argumentschwachen und verschwimmenden „Ängste“ der „besorgten Bürger“ auf der Straße ein und ist nicht nur im Angesicht der komplexen Zusammensetzung jener sozialen wie gesellschaftlichen Schicht problematisch.
In bester Tradition einer differenzierungsarmen bürgerlichen Mitte, die sicher stets die besten Absichten hat und sie dann gegen Bequemlichkeit, Desinteresse und kurzsichtige Besitzansprüche tauscht, bietet Döpfner nichts als eine Aneinanderreihung inhaltsloser Phrasen auf der Suche nach Identitätsstiftung und dem Wunsch nach autoritärer Führung. Was wir im Inneren nicht haben, können wir wenigstens im guten alten Stile kolonial-imperialistischer Hybris exportieren und glauben der Strahlkraft unserer vorgegaukelten Scharade am Ende vielleicht sogar selbst. So werden die europäischen Werte mantrisch beschworen und lassen sich doch mit der einfachsten Argumentation dekonstruieren:
Wo waren denn Solidarität, „Europäischer Gedanke“ und Demokratie bei der Degradierung Griechenlands zur Kolonie hauptsächlich deutscher und französischer Gläubiger? Im Text bangt der Autor gänzlich unbegründet um die Verteidigung der Marktwirtschaft, denn auch das hat die griechische Tragödie bewiesen: Das europäische Credo ist und war nie ein Wertekanon sozialer, kultureller und demokratischer Schnittmengen. Es geht um Nutzenmaximierung im Deckmantel einer heuchlerischen und scheinheiligen Politik. Dabei reicht es vollkommen, den Blick innerhalb Europas schweifen zu lassen, um zu erkennen, dass die Interessen des Marktes über allem stehen. Geht man darüber hinaus und vergleicht die außenpolitische Interessenverfolgung mit den proklamierten Grundfesten von Demokratie und Menschenrecht, so wird die Demaskierung umso einfacher. Die Diskrepanz zwischen dem „Willkommen“-Button an der fetten Brust und den Waffenexporten zum Kriegseinsatz in verschiedenen Weltgegenden wird erst mit der Asylrechtsverschärfung so richtig zynisch.
Appelle gegen eine Vermischung der Flüchtlings- und der Terrorismusthematik durch die politische Elite sind hier natürlich löblich. Doch muss man sich fragen, wie denn beispielsweise ein Horst Seehofer jetzt davon ausgehen kann, dass seine monatelange Brandrhetorik, die genau in diese Kerbe schlug, plötzlich einfach vom Tisch und aus den Köpfen seiner Zuhörerschaft gewischt werden könnte. Die Parallelen zur Sprache der rechten und extrem rechten Peripherie sind gewollt und die Anbindung mitsamt Wirkung nicht ohne weiteres umkehrbar. Wer nur ansatzweise die sich vollziehende Radikalisierung der Gesellschaft in sozialen Netzwerken verfolgt, ballt bei so viel Doppelzüngigkeit vor Wut die Faust. Denn eben jene zur radikal mittleren Politik berufene Masse begrenzt ihre politische Partizipation größtenteils längst auf Plattformen wie Facebook und zeigte beim schwarz-rot-geilen Schummel-Märchen gleichermaßen Flagge, wie bei der Anteilnahme an den Pariser Terror-Anschlägen. Das Bewusstsein für die Bedeutung von Äußerungen und Handlungen mit unweigerlich politischen Hintergründen geht im Social-Media-Nebel zwischen rassistischen Ressentiments und pervertierter Anteilnahme mit Trauerflor in Tricolore verloren.
Und auch das darf im lauwarmen Brei eines beispielhaft positionslosen Kommentars wie dem von Döpfner nicht fehlen: Die Gleichsetzung und Relativierung von Taten des politischen Randes. Im Artikel wird die Mär „rechter und linker Nationalisten und Rassisten“ gestreut. Man fragt sich, wie viele linke Rassisten und Nationalisten denn wohl in der vergangenen Zeit gegen Flüchtlinge und deren Unterkünfte übergriffig geworden sind. Hiermit werden die Realität brennender Unterkünfte sowie die Angriffe auf Schutzsuchende und Andersdenkende aufs äußerste relativiert und die Ernsthaftigkeit der rechten Bedrohung ebenso wie der sich vollziehende Rechtsruck innerhalb der deutschen Gesellschaft beiseitegeschoben. Doch diese Gleichsetzung ist nicht neu. Darüber hinaus kommen Relativierung und Gleichsetzung dem bundesdeutschen Evergreen der Täter-Opfer-Umkehrung genauso zugute wie der Verbrämung von Rassismus innerhalb der breiten Gesellschaft.
Hier schließt sich bei Döpfner dann auch wieder der Kreis zu den „abendländischen Patrioten“, denn auch beim dargestellten Verständnis von Integration bedient sich der Springer-Chef überschneidender Rhetorik: Er faselt von zu reduzierenden sozialstaatlichen Leistungen und deren vermeintlicher Lockwirkung im Tausch gegen eine härtere Sicherheitspolitik, was nur zeigt, in welcher geistigen Umnachtung der Autor sich in Anbetracht der realpolitischen Situation und ihrer kausalen Ursprünge befindet.
Integration aber kann nur durch Gegenseitigkeit funktionieren: Der Staat muss seinem Lehr- und Fürsorgeauftrag nachkommen, denn die menschenwürdige Unterbringung Geflüchteter ist ebenso Grundlage einer zukünftigen Integration wie Sprachkurse und Hilfe beim Erlernen und Verstehen unserer parlamentarischen Demokratie.
Was hier aber nicht funktioniert, ist der neoliberale Duktus von Privatisierung bis hin zur Integration selbst, wie ihn auch Michael Martens in der FAZ fordert.
Die Demokratie wird niemals wirkungsvoll gegen ihre Feinde verteidigt werden können, wenn der Großteil der Gesellschaft nicht bereit ist, sich mit ihr inhaltlich auseinanderzusetzen und die propagierten Werte auch zu leben! Demgegenüber ist das wabernde Konstrukt einer sich radikalisierenden Mitte eine blasse Renaissance des Burgfrieden-Konzeptes und erinnert traurig an den Ruf nach einer Volksgemeinschaft.
Die Mehrzahl solcher Artikel voller Pathos sind das beste Beispiel für die blanke Ermangelung an Selbstreflexion einer Mitte, die endlich lernen sollte, ihre so geliebten Werte auf der Suche nach Identität nicht bloß zurechtzurücken und zu schönen, sondern sie mit Inhalten zu füllen. Die Mitte muss bleiben, was sie ist – Mainstream, demokratischer Kompromiss. Es stünde ihr nur gut zu Gesicht, das eigene Profil mit Bewusstsein für Demokratie, Konsum und Umwelt zu hinterfragen und zu schärfen. Sonst sind alle anschwellenden Berufungen auf „unsere Werte“ nur Worthülsen und schwindendes Echo im Rauschen einer Existenz zwischen Scheuklappen.

Stephan Jakubowski, Jahrgang 1984, studierte Politik an der Uni Göttingen und ist im Bereich Presse-/Öffentlichkeitsarbeit tätig. Er lebt zurzeit in Leipzig.