18. Jahrgang | Nummer 24 | 23. November 2015

Für Säkularismus und Laizismus

von Heino Bosselmann

„Für Deutschland ist die Kritik der Religion im wesentlichen beendet, und die Kritik der Religion ist die Voraussetzung aller Kritik.“ – Marx’ Einleitungssatz in „Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie“ von 1843/44, erschienen im Projekt der „Deutsch-Französischen Jahrbücher“.
So richtig wie der zweite Teil dieser Aussage, so illusionär erscheint mittlerweile leider der erste. Die Kritik der Religion ist mitnichten abgeschlossen, sie beginnt gerade erst wieder. Oder dringlicher: Die Religionen, vorzugsweise der Islam, scheinen in der Offensive, so dass man sich als Atheist sorgt. Die säkulare Gesellschaft ist gefährdet. Auch vom mittelalterlichen Weltbild muslimischer Emigranten. Nein, das ist keine neue Verschwörungstheorie. Man denke an die Marter, die das Christentum unter seinem Martersymbol verschuldete. Der Islam steht dem in nichts nach. Europa hätte in der Neuzeit nicht zu modernen Gesellschaftsverträgen finden können, wäre es den meisten Staaten nicht gelungen, vorher die Religionskriege zu beenden, in deren furchtbare Ära hinein neuerdings der historische Rückfall droht.
Religionen fordern für sich selbst eine Pietät ein, die sie ihrerseits dem Atheisten nicht zugestehen. Vielmehr sehen sie in ihm ihr Missionsziel; und wer sich diesem Ansinnen widersetzt, wird zum Missionsopfer oder aber zum geistigen Feind, weil er sich einer Botschaft widersetzt, die den Gläubigen als unabdingbar gültig erscheint. Einen solchen Anspruch vertreten ansonsten nur totalitäre Diktaturen.
Erscheint einem die Welt ohne Schöpfer, ohne Heil und ohne die Endlösung-Erlösung weit wunderbarer, als dass es darin eines göttlichen Betriebssystems bedürfte, gilt man vielen Bekennern als verirrtes Heidenkind, den radikaleren aber bereits als renitenter Ketzer. Man denke nur über die Behauptung mindestens der beiden jüngeren monotheistischen Religionen nach, ihr Gott kümmere sich selbstverständlich um alle Menschen, also auch um jene, die nicht an ihn glauben. Nur zum Vergleich: Der Philosophie, der Physik wie überhaupt allen Naturwissenschaften ist ein solcher Anspruch selbstverständlich völlig fremd; ihnen geht es um das, was Religionen für ihre Aussagen von vornherein ausschließen, nämlich um Falsifikation. Das Dogma will und soll gerade nicht falsifiziert werden; und der Skeptiker ist, religiös angeschaut, ein gefährlicher Dissident, der bekehrt oder, so er nicht willig ist, bedroht und sogar vernichtet werden sollte. Blickt man in den Mittleren Osten stellt sich dies eben leider nicht mehr als bloßer Alptraum dar, sondern als Realität. Und den Atheisten dürfte der Rechtgläubige noch mehr hassen als den Andersgläubigen.
Man stelle sich bloß vor, eine Theorie zur Physik des Allergrößten oder Allerkleinsten, also aus dem Umfeld der Relativitätstheorie oder Quantenphysik, würde verlangen, jeder müsse ihr zustimmen, sonst befände er sich auf einem Irrweg! Mal abgesehen davon, dass das Verständnis physikalischer Darstellungen eine höhere Qualifikation voraussetzt als die Lektüre des Offenbarungswissens von Bibel oder Koran, ist gänzlich undenkbar, Wissenschaften, die sich Welträtseln widmen, wollten dergleichen von ihren Studenten verlangen. Nein, im Gegenteil, sie sind sogar angewiesen auf Widerlegungen, um ganz im Sinne von Poppers Falsifikationskriterium einer Wahrheit näher zu kommen, die sich dem Menschen nun mal nie ganz erschließen kann. Letzteres aber, die Erkenntnis absoluter Wahrheit, nehmen Religionen für sich selbstredend in Anspruch.
Offenbarungswissen ist kein Wissen; es ist gläubige Wahrnehmung, vermutlich eine Suggestion, aufgerüstet mit einer als göttlich bezeichneten Autorität, die keine Revision und keinen Einspruch duldet. Aber dabei doch Kultur und als solche Teil der dramatischen menschlichen Geistesgeschichte, die allerdings gerade durch das Wirken der Religionen und ihrer Totalitarismen viel Leid über die Menschheit brachte. Sicher, das ist ebenso Diktaturen anzulasten, die sich explizit atheistisch verstanden. Vor diesem Hintergrund denke man über die Wesensverwandtschaft von Religionen und totalitaristischen Ideologien nach.
Wie sollte jemand, der daran glaubt, die mekkanischen und medinensischen Suren des Koran wären Mohammed vom Erzengel Gabriel in die Feder diktiert worden und würden mithin ein Werk ergeben, das schon als Text, als Corpus, als Buch an sich und in sich heilig wäre, wie sollte so jemand der Vernunft je zugänglich sein? Und wo denn läge der prinzipielle Unterschied zum sprechenden Gott im Dornbusch, zu den Zeugnissen über die Ereignisse von Golgatha oder zu den mystifizierten Platten, die der Engel Moroni den dubiosen Joseph Smith jr. 1827 in den Hügeln von Cumorah finden ließ, jene Platten, die den hanebüchenen Text des Buches Mormon enthalten, das Smith dank der Sehersteine Urim und Tummim zu übersetzen wusste? Keine Frage, von den Platten gibt es keine Spur, und der Verlauf dieser Offenbarungsgeschichte steht an völliger Unglaubwürdigkeit den anderen Religionen und deren Phantasmen in nichts nach. Nur darf man das alles nicht mal in Frage stellen; dagegen eben steht die Forderung nach Pietät, die – ganz sakrosankt – genau deswegen nötig ist, weil es sich nun mal um etwas nicht diesseitig Nachvollziehbares handelt. Ja, dass man dergleichen weder verifizieren noch falsifizieren könne, gilt ja gleichsam als Beweis des Heiligen. Weil ich es nicht erfassen kann, soll es umso wahrer sein! – Um im angestammten Kulturkreis zu bleiben: Man lese konzentriert der Apostolische Glaubensbekenntnis Zeile für Zeile und überlege genau, zu welcher der Aussagen dieses Textes man sich verstandesgemäß im 21. Jahrhundert denn wirklich bekennen wollte.
Was Religionen ihrem Wesen nach sind, was Gesellschaft und Ethik ihnen verdanken mögen, und inwiefern die vermeintlich frohen Botschaften für den Glauben, diese Volksmetaphysik, in allerlei Mythen, Gleichnisse und Episoden eingekleidet wurden, dazu haben Theologie, Religionswissenschaft und Geistesgeschichte allerlei schwerwiegende Erklärungen hinterlassen. Es bleibt zu bedenken, dass mindestens der fundamentalistisch Glaubende einer solchen Exegese nicht nur nicht bedarf, sondern sie von vornherein ablehnt, beansprucht er doch die buchstabengetreue Geltung seiner heiligen Bücher. So der Koran etwa als solches bereits heilig ist, bedarf der Muslim eben keiner Wissenschaft, die ihm auslegt, was der Engel Mohammed einst vermittelte; vor allem aber ist eines dem Gläubigen ein Gräuel, nämlich Kritik an dem, was da in seinen Büchern steht.
Wo die Demokratie, geschrumpft auf Konsumenten-Utilitarismus, nicht mehr als lebendig erlebt werden kann, wo sie ferner den für ihre Lebendigkeit erforderten mündigen und kritischen Bürger nicht mehr auszubilden versteht, ja ihn nicht mal mehr für erwünscht hält, dort entsteht eine gedankliche Leere die von religiösen Sinn- und Gottsuchern auf gefährliche Weise gefüllt wird.
Der allseits geschätzte Deutsch-Iraner Navid Kermani fordert nach seiner anlässlich des ihm gerade verliehenen Friedenspreises des Deutschen Buchhandels gehaltenen Rede das Auditorium zum Gebet auf. Und das Auditorium findet das passend. Das ist nicht nur ungewöhnlich, sondern unerträglich.