18. Jahrgang | Nummer 24 | 23. November 2015

„Das östliche Firmament“

von Clemens Fischer

Es ist nicht verbindlich definiert, ab der wievielten „Auflage“ ein Musikfestival als ein bereits traditionelles bezeichnet werden darf, doch das Louis Lewandowski Festival synagogaler Musik, das größte seiner Art weltweit, dürfte an der Schwelle dazu stehen – es findet in diesem Jahr zum fünften Male statt, vom 17. bis 20. Dezember. Und nicht mehr nur in Berlin, sondern auch in Potsdam. Immer wurde dabei auf eine Mischung von Profi- und Amateurchören geachtet, „und das soll auch so bleiben“, wie Festivaldirektor Nils Busch-Petersen im Gespräch mit dem Blättchen betont. Denn Chormusik lebe auch davon, offen zu sein für jeden, der singen möchte.
Die Publikumsresonanz des Festivals ist über die Jahre kontinuierlich gewachsen. Inzwischen kommen zum Festival bis zu 2.500 Zuhörer, Tickets gehen bis in die USA und nach Japan.
Die bisherigen Festivals hatten Louis Lewandowski (2011) und Komponistenkollegen seiner Zeit (2012) in den Mittelpunkt gestellt, dann die von der Nazi-Barbarei ins Exil getriebenen jüdischen Komponisten (2013) und jene, die während des Dritten Reiches Aufnahme in den USA gefunden hatten (2014).
Dabei gab es, was den synagogalen Grundtenor des Festivals anbetrifft, durchaus auch Grenzüberschreitungen. Im vergangenen Jahr etwa intonierte der Zamir Chorale of Boston mit kämpferischem Pathos, wie sich Nils Busch-Petersen erinnert, „Und weil der Mensch ein Mensch ist …“ – das Lied von der Einheitsfront. Auf Wunsch von Erwin Piscator 1934 geschaffen von Bert Brecht und Hans Eisler. Für die Erste Internationale Musikolympiade in Straßburg, auf der es 1935 seine Uraufführung erlebte. Erstmals gedruckt erschienen während des Spanischen Bürgerkrieges 1937 in Madrid, herausgegeben von Ernst Busch, dessen Interpretation es weltbekannt machte. Auf der damaligen Probe, so Busch-Petersen weiter, habe ein schon etwas betagter zufälliger Lauscher, „offenbar ein alter Westberliner mit einem gut erhaltenen Rest von Frontstadtmentalität“, den Übungsraum mit dem empörten Ausruf gestürmt: „Was ist denn hier los? Sind die Kommunisten schon wieder da?“ „Nein“, wurde ihm beschieden, „ein Synagogalchor aus Amerika …“
In diesem Jahr nun wird sich das Louis Lewandowski Festival unter dem Titel „Das östliche Firmament“ Vertretern der osteuropäischen „Chor Shul“ widmen.
In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sandte die Musik von Salomon Sulzer (Wien) und Louis Lewandowski (Berlin) Impulse in viele Richtungen in Europa aus. Sie erreichte auch zahlreiche Kantoren in Osteuropa, bei denen sie auf schöpferische Resonanz stieß. Das führte dazu, dass dort ein neuer Stil der jüdischen Liturgie geschaffen wurde, in dem der Chor auf westliche Art sang, während der Kantor Rezitative vortrug. Diese Neuerung erfreute sich rasch enormer Popularität, und bald entstanden „Chor Shul“ genannte Synagogen in vielen Orten Russlands, Polens, Litauens, Lettlands, Ungarns und Rumäniens. Das diesjährige Festival ist eine Hommage an einige der herausragendsten Chor Shul Komponisten – darunter Nissan Spivak (1824-1906), David Nowakowsky (1848-1921) und Eliezer Mordechai Gerowitsch (1844-1914).
Konzertieren werden zum Festival insgesamt fünf Chöre aus vier Ländern; für die vier auswärtigen Teilnehmerplätze hatte es 14 Bewerbungen gegeben. Und das Festival wird mit einigen Neuerungen aufwarten. „Stillstand ist Rückschritt“, sagt Nils Busch-Petersen mit einem apodiktischen Lächeln.
Das beginnt schon mit dem Auftaktkonzert am 17. Dezember in der Synagoge Pestalozzistraße – erstmals ein Solistenkonzert von Kantoren der teilnehmenden Chöre sowie aus Berlin.
Ebenfalls erstmals wird ein russischer Chor auf dem Festival vertreten sein: The Moscow Male Jewish Cappella. Das Ensemble wurde 1989 wiedergegründet, mit persönlicher Unterstützung von Michail Gorbatschow, in Erinnerung an den Chor der großen Choral-Synagoge Moskaus, der dort vor der Revolution 1917 bestand. Die Sänger sind ausschließlich professionelle Musiker – Absolventen und Lehrer führender Musikinstitute der russischen Hauptstadt oder Solisten verschiedener Häuser wie dem Bolschoi Theater. Die Einladung dieses Chores gerade in diesem Jahr, so Busch-Petersen, solle auch ein Zeichen setzen in einer schwierigen Zeit im deutsch-russischen Verhältnis.
Und schließlich eine weitere Novität und zugleich eine Rarität auf einem Festival synagogaler Musik: Erstmals wird auch ein rein weiblicher Chor teilnehmen: Vocaliza Women’s Choir of Tel Aviv. Das Ensemble besteht aus 25 Laiensängerinnen, die aus verschiedenen Berufen kommen und die ihre Liebe zur Vokalmusik ebenso eint wie der Reiz musikalischer Herausforderungen.
Die London Cantorial Singers interpretieren einst populäre, heute eher rar gewordene Synagogalmusik – möglichst dicht an den Originalversionen der Komponisten. Ebenso singt der Chor israelische und jiddische Volkslieder.
Das Repertoire des Jerusalem Cantors’ Choir, der regelmäßigen Festivalbesuchern noch von seiner Teilnahme im Jahre 2011 her bekannt sein dürfte, umfasst kantorale, liturgische, jiddische, chassidische und zeitgenössische israelische Stücke. Die 32 Mitglieder des Chors sind ausnahmslos Kantoren und Vorbeter (Tenöre, Baritone und Basssänger), die ihr Engagement im Chor als einen Dienst an der Allgemeinheit sehen.
Das Synagogal Ensemble Berlin ist das einzige Profi-Ensemble, das jeden Freitagabend, Schabbatmorgen sowie an allen jüdischen Feiertagen die Liturgie von Louis Lewandowski zum Erklingen bringt. Es besteht aus acht Sängerinnen und Sängern, die den Berlinern Opern- und Rundfunkchören angehören oder freiberuflich als Solisten tätig sind.
Die Chöre werden sich – im Unterschied zu den Doppelkonzerten am jeweiligen Festival-Samstag der vergangenen drei Jahre – dieses Mal erneut in Solokonzerten präsentieren, um ihrem jeweiligen Repertoire mehr Raum zur Entfaltung zu geben.
Im großen Abschlusskonzert am 20. Dezember in der Synagoge Rykestraße werden wiederum alle Chöre gemeinsam zu Gehör kommen.
Apropos Abschlusskonzert: Dafür halten die Veranstalter ein weiteres Novum bereits – eines mit einer Vorgeschichte. Nils Busch-Petersen erzählt: „Vielleicht der Superhit unserer Festival-Geschichte ist das wunderbare L’Dor wa Dor von Meir Finkelstein – in deutscher Übersetzung: von Generation zu Generation. Das wäre auch ein gutes Motto für das Festival, denn wir wollen nicht zuletzt die junge Generation einbeziehen. Nicht nur als Zuhörer, auch als Sänger. Deshalb hat die Künstlerische Leiterin des Festivals, Regina Yantian, vor einiger Zeit begonnen, an der Synagoge Pestalozzistraße einen synagogalen Jugendchor aufzubauen. Und der wird beim Abschlusskonzert dieses Jahr seinen ersten Festival-Auftritt haben.“ Es gebe nur ganz wenige vergleichbare Chöre dieser Art in Europa.
Und was die Nachwuchsförderung anbetreffe, so fügt der Direktor noch hinzu, hätten sich die Festivalveranstalter entschlossen, einen Louis Lewandowski Preis für junge israelische Künstler auszuloben, der ab kommendem Jahr beim wichtigsten israelischen Gesangswettbewerb, der immer im Sommer in Haifa stattfinde, vergeben werden solle. Der Preisträger werde dann nach Berlin eingeladen – zu einem Auftritt im Rahmen des Solistenkonzerts des Festivals.
Die Schirmherrschaft des Festivals liegt auch in diesem Jahr beim Regierenden Bürgermeister (und Kultursenator) von Berlin, dem neuen Amtsinhaber Michael Müller, sowie beim Vorsitzenden der Jüdischen Gemeinde zu Berlin, Gideon Joffe. Der Regierende wird zur Feierlichen Festivaleröffnung am 17. Dezember in der Synagoge Pestalozzistraße erwartet. Der Eintritt zu dieser um 17:00 Uhr beginnenden Veranstaltung ist übrigens frei, allerdings sollte ausreichend Zeit für die Sicherheitskontrollen eingeplant werden.
Im nächsten Jahr wird das dann wirklich schon traditionelle Festival, das „jedes Mal neue Akzente setzen will“, so der Direktor, synagogale Musik vor Lewandowski aufgreifen – unter anderem am Beispiel italienischer Komponisten aus der Renaissance und dem Barock. Drei Chöre haben dafür bereits zugesagt – darunter einer aus Amsterdam und einer aus Toronto. Mehr aber wollte Nils Busch-Petersen jetzt noch nicht verraten.

Weitere Informationen zum Programm, den Veranstaltungsorten und Anfangszeiten sowie zum Kartenerwerb im Internet; Kartenreservierungen unter reservierung@louis-lewandowski-festival.de.