18. Jahrgang | Nummer 22 | 26. Oktober 2015

Totgesagte leben länger

von Edgar Benkwitz

Eines der größten politischen Geheimnisse Indiens soll in wenigen Wochen gelüftet werden: Die bisher streng gehüteten Akten über Subhas Chandra Bose werden freigegeben. „Netaji“ – geliebter Führer – ist bis heute der Kosename des glühenden Nationalisten Bose, der angeblich am 18. August 1945 bei einem Flugzeugunglück in Taipeh ums Leben kam. Doch genau das wird seitdem aufgrund einer Fülle von Fakten, Gerüchten und Spekulationen angezweifelt. Vermutet wird vielmehr ein großangelegtes Täuschungsmanöver, an dem viele Seiten beteiligt waren und das von allen indischen Regierungen seit der Unabhängigkeitserklärung mitgetragen wurde.
Bose, ein Bengale, war in den zwanziger und dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts neben Mahatma Gandhi und Jawaharlal Nehru einer der Führer der indischen Unabhängigkeitsbewegung. Zweimal wurde er zum Präsidenten der Kongresspartei gewählt, doch im Unterschied zu seinen Mitkämpfern war seine antibritische Haltung stark militant ausgeprägt. Historiker sehen in ihm einen Gegenspieler, wenn nicht gar einen Rivalen Gandhis und Nehrus. Nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs versuchte Bose seine Linie des Widerstands gegen die Kolonialmacht im Alleingang zu verfolgen. Er setzte nun auf militärische Hilfe aus dem Ausland.
Nach der Flucht aus Indien im Januar 1941 warb er dafür zuerst in Moskau, jedoch vergeblich. Mit großen Hoffnungen reiste er nach Berlin weiter, wo er im Mai 1942 von Hitler empfangen wurde und mehrere Treffen mit Himmler hatte. Mit Hilfe der SS fasste er mehrere tausend Kriegsgefangene indischer Herkunft als „Indische Legion“ zusammen, die für militärische Einsätze vorbereitet wurde. Doch mit den Niederlagen der deutschen Wehrmacht an der Ostfront zerstoben die Hoffnungen Boses auf Unterstützung durch Hitlerdeutschland und er wandte sich 1943 dem asiatischen Kriegsschauplatz zu.
In Singapur, wohin er nach einer abenteuerlichen Fahrt auf deutschen und japanischen U-Booten gelangte, wurde er in die Kriegspläne der Japaner eingebunden. Als fähiger Organisator und leidenschaftlicher Propagandist schaffte er es, die Indian National Army(INA) sowie die Provisional Government of Free India – beide von den Japanern initiiert – handlungsfähig zu machen. Von Malaya und Burma kommend, besetzte die INA gemeinsam mit japanischen, burmesischen und malaiischen Verbänden kleinere Gebiete im heutigen indischen Bundesstaat Manipur, wurde jedoch von britisch-indischen Truppen gegen Ende des Krieges aufgerieben. Bose flüchtete durch ganz Südostasien, auf dem Weg in die Mandschurei kam er bei einem Flugzeugunglück in Taipeh ums Leben. Seine Urne wurde wenig später nach Tokio gebracht, wo sie sich bis heute in einem Tempel mit Gedenkstätte befindet.
Die bisher geschilderten Lebensstationen Boses sind zum größten Teil dokumentarisch belegt. Sogar die Todesumstände – Verbrennungen dritten Grades und Ableben noch am Unfalltag im Krankenhaus – sind durch einen Arzt und andere Personen detailliert festgehalten. Doch was ist daran wahr? Denn es kamen sofort Gerüchte auf, die all das in Frage stellten. Sie fielen auf fruchtbaren Boden, denn die schillernde Gestalt Boses war zu sehr in das internationale Geschehen eingebunden, er war ein erklärter Staatsfeind der britischen Kolonialmacht, erweckte aber andererseits zutiefst nationale Gefühle in seinem Heimatland. Legendenbildung und Mystifizierung griffen um sich, bis heute hält sich hartnäckig eine Version, wonach Bose nach einem Aufenthalt in einem sibirischen Lager von der Sowjetunion abgeschoben wurde. Seitdem soll er im Norden Indiens, nahe der heiligen Stadt Ayodhya, als hindugläubiger Guru bis 1985 gelebt haben. Der gesamte Vorgang wurde zudem politisiert. Premierminister Nehru wurde eine Mitschuld einschließlich Vertuschungsmanövern vorgeworfen.
Die indische Regierung sah sich gezwungen, wiederholt Untersuchungskommissionen einzusetzen, die die genauen Umstände des Todes klären sollten. Die letzte Kommission unter Leitung eines Obersten Richters im Ruhestand legte nach sechsjähriger Arbeit im Mai 2006 dem Parlament ihren Bericht vor. Nach Sichtung ausländischer Archive und neuerlicher Anhörung von Zeugen kam sie zu dem Ergebnis, dass ein Flugzeugunglück in Taipeh zum besagten Zeitpunkt nicht stattgefunden habe. Vielmehr habe es einen geheimen Plan gegeben, der die Reise Boses in die Sowjetunion absichern sollte. Auch die Asche in der Gedenkstätte in Tokio soll nicht von Bose stammen. Dieser Bericht wurde von der indischen Regierung, die 2006 von der Kongresspartei gestellt wurde, ohne Angabe von Gründen zurückgewiesen. Sie lehnte es auch erneut ab, die unter strengster Geheimhaltung aufbewahrten Akten über Bose endlich freizugeben, da dies „die Beziehungen zu ausländischen Regierungen negativ beeinträchtigen würde“.
Natürlich wurde diese Haltung durch die Öffentlichkeit mit Unverständnis aufgenommen, zudem verstärkte sie den Eindruck, dass hier etwas verborgen wurde.
Seit 2014 ist in Indien die hindunationalistische Indische Volkspartei (BJP) unter Premierminister Narendra Modi an der Macht. Im Wahlkampf hatte Modi noch versprochen, die Bose-Akten schnell zu veröffentlichen. Doch davon rückte auch er bis vor wenigen Tagen ab. Mittlerweile aber ergriff die Ministerpräsidentin von Westbengalen, Mamata Banerjee, die Initiative und veröffentlichte alle geheimen Akten, die im Staatsarchiv von Kolkata (Kalkutta) aufgehoben wurden. Das sind 12.000 Seiten, die vor allem die Zeit nach 1945 betreffen. Sie belegen vor allem, wie die große Familie Bose jahrzehntelang überwacht wurde. Warum das alles, fragt die Öffentlichkeit, wenn doch Bose offiziell für tot erklärt worden war? Ganz Indien schaute nun nach Neu Delhi, denn von dort erhoffte man sich Antwort auf diese Fragen. Und der indische Regierungschef Modi reagierte prompt, indem er ankündigte, die in Delhi verwahrten Aktenordner in Bälde freizugeben.
Der nunmehr schnelle Ablauf der Dinge wurde allerdings nicht durch das hehre Streben nach Wahrheit bestimmt. In Mamata Banerjees Westbengalen finden im nächsten Jahr Wahlen zum Staatsparlament statt. Ihre Partei, der Trinamool Congress, versucht, den starken bengalischen Nationalismus für sich zu nutzen, indem sie den von allen Bengalen verehrten Subhas Chandra Bose zu einem Wahlkampfthema macht. Das soll die politischen Gegner bloßstellen: die Kongresspartei, der in dieser Frage seit jeher Foul Play vorgeworfen wird; die kommunistischen Parteien, die gegen Bose eingestellt waren und ihn als „Schoßhund der Japaner“ bezeichneten, und die BJP, die von der Freigabe der Akten abrückte. Doch der schlaue Fuchs Modi riss mit seiner Entscheidung das Geschehen nun an sich. Und er punktet weiter, indem er zur Aktenöffnung am 23. Januar 2016, dem 119. Geburtstag Subhas Chandras, die Familie Boses nach Neu Delhi einlud. Seine Außenministerin erhielt zudem die Zusage des russischen Außenministers, die in Moskau vorhandene Aktenlage zu prüfen. Modi wird in Kürze zu Staatsbesuchen nach Moskau und London reisen. Auch dort dürfte das Thema angesprochen werden. Allerdings ist fraglich, inwieweit KGB- und MI-6-Archive wirklich geöffnet werden.
Totgesagte leben bekanntlich länger. Der Hauptakteur des geschilderten Geschehens, der aus tiefstem Glauben sein Land von kolonialer Unterdrückung befreien wollte und dabei nach allen Mitteln griff, würde sich allerdings im Grabe umdrehen, wenn er erführe, wie gnadenlos seine Person heute im innenpolitischen Gerangel ausgenutzt wird.