18. Jahrgang | Nummer 17 | 17. August 2015

Land des Lächelns

von Heino Bosselmann

Ist es einem Mangel an echten Erlebnissen geschuldet, dass das im permanenten „Small-Talk“ Vermeldete so oft als „total interessant“, „ungeheuer spannend“, „absolut aufregend“ und „ungeheuer witzig“ dargestellt wird? Überall Superlative. Alle Welt auf der Jagd nach Bonmots; keine Mittags- oder Pausenrunde ohne offensiven Humor. Wohin man auch kommt, es empfängt einen die verordnet gute Laune, so zahnig wie Rotkäppchens falsche Großmutter.
Tolle Stimmung? Eher scheinen gerade die Leistungs- und Entscheidungsträger, die Supercleveren und Gewinner auf einem Kriegspfad des Dauerlächelns. Ihr Vorteil: Alle ihnen zugeordneten Vasallen und lohnabhängig Beschäftigten lachen mit. Alles präsentiert und „performt“, alles muss sich gewinnend verkaufen und ist dabei schon erfolgreich aufgegangen im aufgehübschten humankapitalistischen Warensortiment.
Aber nicht nur die selbsterklärten Eliten und deren nacheifernder Anhang sind ausdauernd amüsiert. Man sehe sich nur einen Parteitag der Grünen an und was man dort so für lustige Lebensfreude hält. Gern mal wieder Kind sein! – Nein, hier soll keiner Miesepetrigkeit das Wort geredet, sondern nur gezeigt werden, wie anstrengend vermeintliches Glück sein kann. – Selbst die Schule, vorzugsweise neuerdings die Ganztagsschule, nimmt sich in den Hochglanzpropekten der Kultusbürokratie als freudvollen Ort wahr; und dabei stört es die Propagandisten gar nicht, dass sie kaum je das Zeug dazu hatte. Man prüfe daraufhin die Literaturgeschichte. Sie gestaltet über die Schicksale von Hans Giebenrath und den Zöglich Törleß hinaus die vielfachen Frustrationen und Kränkungen, die diese Anstalt noch jedem bereitete. Nur heute angeblich nicht mehr! Heute lächeln dort nämlich alle und sind angeblich nur erschüttert, wenn Unterrichtsausfall droht. Was für ein befreiender Wandel!
Von der Doppelbödigkeit der menschlichen Komödie weiß man nicht erst seit Freud. Die Ambivalenzen von Stimmungen und Gefühlen bereichern die Nuancen des einfachen Lebens. Weshalb sollten wir uns zum Dauergrinsen verpflichtet sehen und zu klebriger Freundlichkeit? Schopenhauer, dessen kluge Fabel von den Stachelschweinen nebenher empfohlen sei, sieht gerade in der Höflichkeit ein notwendiges Vehikel, die grundsätzliche Bosheit untereinander zu kompensieren: „Höflichkeit ist wie ein Luftkissen: es mag wohl nichts drin sein, aber es mildert die Stöße des Lebens.“ – Aber die Höflichkeit scheint sogar auf dem Rückzug, statt dessen dringen einem immer mehr echauffiert Daueraufgeregte in die eingerissene Aura. „Schön Sie zu sehen! Wie geht’s Ihnen?“
In bestimmten Kreisen der hyperkinetisch überdrehten Bussi-Gesellschaft hat die Umarmung längst den verbindlichen Händedruck abgelöst. Ruhiger Lebensernst ist out. Und erst die Partys, bunt wie früher Revuen oder Operetten. Schon jede Abi-Fahrt ein aufwendiger Exzess anbefohlenen Ausflippens im ADHS-Milieu. Avancierte „Authentizität“ zu einem so vielfach gebrauchten Modewort, weil man sich jenseits der süßen Kaschierungen und unter dem das Leben vermanschenden Dressing penetranter Fröhlichkeit nach dem ursprünglich Echten sehnt, das man kaum mehr kennt?
Wo man hinkommt, warten die prallen Stories: Möchte man am Tresen einfach einen Whisky genießen, erzählt einem schon ein engagierter Kenner völlig ungefragt, dass er letztes Jahr bei schwerem Wetter hoch in den Highlands endlich, endlich die ultimative Destillerie gefunden hätte: Dort nehmen sie noch Fässer, die von der alten Ostindien-Company stammen, füllen frühestens nach 23 Jahren ab; und es soll Sorten geben, die am Grunde eines Teiches lagern, auf dem die Pfarrgänse schwimmen, sanft vom Wasser bewegt, weißt du? Und das schmeckst du, das schmeckst du echt, da stecken Torf und Seewind im Aroma. Mehr geht nicht!
Mehr geht echt nicht. Wer nicht laufend irgendwas spricht oder sendet (postet!), wer nicht mal diesen, mal jenen durch irgendeinen Mega-Prozessor angetriebenen multimedialen Fetisch mit ganzen Datensätzen voller Narzissmen hochhält, gilt als irgendwie retardiert oder deppert. Vermutlich fürchten viele die Stille schon wie einen Vorboten des Todes. Wer kein Smiley ist, steht schon im Verdacht, ein emotionsloser Soziopath zu sein. Vielleicht ließe sich gar eine Proportionalität zwischen der Tristesse der Zeiten und der soziokulturellen Verpflichtung zum Humorigen herleiten. Was, du bist schlecht drauf? Sei doch mal gut drauf! Mach mal: „Cheese!“
Ohne Zweifel kann gelten: Lachen ist gesund. Nur nicht, wenn es zur Maske gefriert. – Als ich aus dem Beitrittsgebiet heraus die ersten Bundesbürger kennenlernte, dachte ich: Wie herzlich doch! Wie zugewandt! Wie beredt! Wie pointiert! Was für ein Stil und welche grandios famosen Auftritte! – Wir Ostler waren nicht nur so befreit wie geschichtlich erledigt; wir fühlten uns gegenüber den neuen Landsleuten anfangs wie Gefühlslegastheniker – verklemmt, parataktisch sprechend, geradezu einsilbig und rhetorisch völlig unbeweglich. Und was die anderen nicht alles erlebt hatten! Mit allen Wassern gewaschen. Nein, geradezu megacool!
Bis wir dann mitbekamen, dass das Obst im SUPER-MARKT zwar blitzblank aussieht, die Brötchen geradezu riesig sind, alles wunderschöne Bezeichnungen führt und überhaupt eine Menge verheißt, aber, kritisch betrachtet, dann doch kleiner und weniger substantiell ausfällt, im Aroma eher fade bleibt und tolle Farben schnell verbleichen. Ach, der Osten war ja so grau!, sagten sie uns immer. Stimmt. Und wir waren es gewohnt, dass sich das Eigentliche zwischen den Zeilen abspielte. Dort war jetzt nichts mehr zu finden, um so mehr aber im Kleingedruckten. Gestik wurde plötzlich wichtig, Mimik, Körpersprache und überhaupt das richtige Outfit: Alles Präsentation, für die es Präsentationstechniken braucht.
Der obligatorische Dauerspaß, das Gut-drauf-Sein, die XXL-Übertreibungen sind kein Ost-West-Problem; sie sind eher das Erfordernis einer Show, ohne die es seit Adam und Eva beziehungsweise seit den aufgeregt hektischen Primatenhügeln im Omo-Tal offenbar nicht geht. Und Leben ohne Witz ist ein Trauerspiel. Der „ehrwürdige Jorge“ in Umberto Ecos „Der Name der Rose“ – „Jesus hat nie gelacht!“ – hatte hoffentlich nicht recht. Aber wo die gute Laune schon mit jedem Tagesgruß diktatorisch zu regieren beginnt, da wird es unheimlicher als in einem Milieu ruhiger, zuweilen verschmitzter Ernsthaftigkeit. Wir alle haben ein Gesicht. Es muss sich nicht immerfort keksrund zum Smiley oder einem anderen Emoticon verziehen.