18. Jahrgang | Nummer 18 | 31. August 2015

Alte Briefe

von Joachim Großkreutz

In alten Zeiten, als die beiden nach dem Zweiten Weltkrieg entstandenen deutschen Staaten noch nicht durch eine Mauer getrennt waren, gab es in Berlin ein Theater, in das Besucher aus Ost und West gleich gern gingen, das war Walter Felsensteins Komische Oper. Nach dem Mauerbau geriet sie mehr denn je in die erbitterten Auseinandersetzungen des Kalten Krieges. Jetzt ist – auf der Grundlage unlängst aufgefundener alter Briefe – im Tectum Verlag ein neues Buch über ihren Gründer erschienen: Autor Boris Kehrmann titelt sein zweibändiges, insgesamt 1372 Seiten starkes Werk „Vom Expressionismus zum verordneten ,Realistischen Musiktheater‘. Walter Felsenstein und die Entstehung seiner Theatertheorie und -praxis von 1901 bis 1951“.
Liest man den Artikel eines Herrn Dieter David Scholz in den Dresdner Neuesten Nachrichten und der Leipziger Volkszeitung vom 16. Juli, mit dem das Buch promotet wird, weiß man schon durch die Überschrift ( „Das Ende der DDR-Legenden“), dass das Ende des Kalten Krieges für Felsensteins Komische Oper noch nicht gekommen ist. Zweck des Buches sei, erfahren wir, „den Regisseur Felsenstein vom Klischee des Realisten und vom Klischee einer Ikone des DDR-Theaters (was immer das sein soll! – J.G.) zu befreien“. In zugegeben holzhammerartig verkürzter Interpretation: Felsenstein soll endgültig den letzten Rest von „Ostmuff“ verlieren und keimfrei desinfiziert in die „West-Kultur“ integriert werden.
Das kann natürlich, selbst rückwirkend, in praxi schwer geschehen, weil man kein glühender DDR-Patriot sein muss, um zu wissen, dass sein Theater in ihr und mit ihren schmalen finanziellen Ressourcen stattfand. Deshalb muss der Kampf in den Lüften der ästhetischen Theorien ausgefochten werden. Dazu muss Felsenstein aus der „DDR-Ästhetik mitsamt ihrer Phraseologie“ (Originalsprech Scholz/Kehrmann), in die er „hineingezwängt“ wurde, herausgepult werden. Das mit dem Hineinzwängen ausgerechnet bei Felsenstein stieß schon Friedrich Dieckmann sauer auf (Leserbrief an die DNN vom 1./2. August), mitsamt dem schmalbrüstigen Realismus-Verständnis Kehrmanns. Ich widme mich daher einem anderen Zankapfel, dem sogenannten „realistischen Musiktheater“, das Felsenstein einerseits laut Buchtitel verordnet wurde, andererseits aber gar nicht stattfand, da er ja – siehe oben – kein Realist war. Die Auflösung des Paradoxons hat mir und anderen schon vor vielen Jahren mein zweiter Chef an der Komischen Oper, Joachim Herz, verraten. Ich weihe Sie ein: „Ich habe Herrn Felsenstein nicht ein einziges Mal von ,realistischem Musiktheater‘ reden hören – Felsensteins Ritter Blaubart hat mit ,Realismus‘ ungefähr so viel zu tun wie Tristan und Isolde mit einer Boulevard-Komödie – (das von ihm Publizierte habe ich nicht anwaltsmäßig darauf durchgeprüft), und ich bin mir nicht bewußt, daß ich diesen Terminus je gebraucht hätte (hier gilt die gleiche Einschränkung) – ich halte ihn für untauglich. Er wurde aber gern benutzt zwecks Eingliederung in die ,realistische Kunst‘ seitens der Oberen und der ihnen Dienstbaren.“ (Genaue Quellenangabe gern auf persönliche Anfrage bei mir – J.G.).
Das hat Boris Kehrmann nun durch langjährige Forschungen offenbar auch herausgefunden, wozu man ihm gratulieren kann. Dem Publikum war es ohnehin seit eh und je schnuppe, ob es grünes, gelbes oder realistisches Musiktheater sah, es ging einfach in Felsensteins Komische Oper.
Durch Scholz erfahren wir ferner, dass Kehrmann herausfand, wie Felsenstein die Russen „geschickt an der Nase herumgeführt hat“, weil die 1947 ein Operettenhaus wollten, er aber eine Komische Oper gründete. In der Tat finden sich beide Begriffe in der berühmten Lizenzurkunde des Hauses, was sich leicht erklären lässt, da die Russen Theater solchen Typs, in denen Operette und Oper gespielt wurde, selbst hatten. Unser langjähriges Moskauer Partnertheater war ein solches. Deswegen wunderten sich die Russen auch nicht im mindesten, als Felsenstein 1949 eine „Carmen“ inszenierte, an die sich der greise Alexander Dymschitz noch Jahrzehnte später selig lächelnd erinnerte (da hatte er also immer noch nicht mitgekriegt, dass er vor 25 Jahren von Felsenstein gelinkt worden war!). Genasführte Russen kommen immer gut an …
Dank Scholz erfahren wir auch von der „brisanten Enthüllung eines bisher verschwiegenen Kapitels des Vorzeige-Instituts“, nämlich dass Felsenstein „nahezu 60 Prozent des Personals der neugegründeten Komischen Oper aus Altnazis rekrutierte“. Das geht vermutlich zurück auf einen Zeitungsartikel unseres langjährigen Soloflötisten Klaus-Jürgen Peter. Er erinnerte sich daran, dass 1947 bei Gründung des Hauses alle überlebt habenden und lupenrein entnazifizierten Spitzenmusiker längst in entsprechenden Spitzenorchestern saßen (bei den Chorsängern war es vermutlich ebenso), so dass für Felsenstein nur der Rest blieb. Da saßen nun sicher ein paar ehemalige Pg´s im Orchestergraben und mussten die Musik des Untermenschen Offenbach spielen. Na und? War doch prima!
Schließlich hört man, dass Kehrmann „vielen Autoren, auch dem renommierten Berliner Felsenstein-Archiv, gravierende Fehler, falsche Datierungen und Unterschlagungen nachweist“. Das ist nun geradezu ehrenrührig. Im Buch selbst lese ich aber einen überschwänglichen Dank des Autors an besagtes Archiv. Dessen Leiterin Ilse Koban kriegt ein dickes Sonderlob, weil sie nicht so viel geschwätzt habe vom „realistischen Musiktheater“ wie tausend andere! Ist Kehrmann nun ein Heuchler oder sein Rezensent schlecht orientiert?
Last but not least weiß Scholz, dass „zur Felsenstein-Legende das Totschweigen der jüdischen ersten Ehefrau ebenso gehört wie die Doktrin ,einen Felsenstein vor der Komischen Oper gab es nicht‘.“
Von der totgeschwiegenen Ehefrau erfuhr man in der DDR 1961 durch die erste Felsenstein-Biografie. Jetzt wird man mehr erfahren, da Kehrmanns Opus auf der Veröffentlichung von mehr als 150 privaten (Liebes-, Ehe-, Familien- und Trennungs-) Briefen beruht. Das hat den Vorteil, dass sich außer den an Felsensteins Kunst Interessierten jetzt auch die Leser von BILD und BUNTE ein buntes Bild machen können. Schon jetzt, erfährt man im Internet, ist das Buch ein „Standardwerk“…
Und die „Doktrin“? Selbst aus den „lückenhaften“ Inszenierungsverzeichnissen der DDR erfuhr man von den mehr als 140 Inszenierungen Felsensteins vor Gründung der Komischen Oper!
Wir sollen den „frühen Felsenstein“ verschwiegen haben, von wem auch immer indoktriniert? Mir fällt der Stift aus der Hand!
Mappenweise haben wir 1976 für eine erste große Felsenstein-Ausstellung Bühnenbildentwürfe für seine frühen Inszenierungen von bundesdeutschen Museen erbeten und bekommen. Wenn es um Felsenstein ging, war für mit Kunst Befasste die DDR damals noch kein Feindesland! Ich erinnere mich an die Theatersammlungen von Köln und München. So groß war am Ende unser Bestand, dass wir in unser kleines Katalogheftchen ein Extrablatt einlegen mussten, auf dem alles verzeichnet war. Und so Aussagekräftiges war zusammengekommen, dass wir bei manchen mehrfach inszenierten Werken kleine vergleichende Exkurse hinkriegten.
Ludwig Schiedermaiers Erinnerungen an seine Assistentenzeit bei Felsenstein in den 30er Jahren in Frankfurt/Main wurden luxuriös mit Fotos präsentiert im 76er Almanach der Komischen Oper!
Einem betagten Tutti-Geiger unseres Orchesters, der schon 1936 bei Felsensteins erster Berliner „Fledermaus“ im Admiralspalast dabei war, habe ich selbst sein wie eine Reliquie gehütetes Programmheft zu dieser Inszenierung abgebettelt – für die Ausstellung und für das Felsenstein-Archiv. Da stand nämlich damals schon mit leuchtenden schwungvollen Lettern auf dem Titelblatt: „Eine Felsenstein-Inszenierung!“
Das soll verschwiegen worden sein?
Nein, ich hör jetzt auf, mich würgt der Ekel vor diesem widerlichen Brei aus Lügen, Halbwahrheiten und haltlosen Unterstellungen. Felsenstein hätte ihn vermutlich, auch wenn es darin nicht um ihn ginge, als „sehr unappetitlich“ bezeichnet.
Das sind Unterschiede! Hier der Geist des Herrn Kinkel mit seiner Aufforderung, die DDR zu „delegitimieren“, dort Walter Felsenstein mit der angemahnten „Pflicht, die Wahrheit zu finden“!
Ich komme in dem Buch auch vor, als „der 1973 von Felsenstein an die Komische Oper engagierte Dramaturg Joachim Großkreutz“. Auch das muss ich (leider!) korrigieren: Es war 1975, ich kenne den Mann buchstäblich nur aus diesem Engagementsgespräch, fühle mich deshalb auch keineswegs als Felsenstein-Spezialist und bekunde schon an dieser Stelle, dass ich als potenzieller Diskutierer in weiteren Felsenstein-Zänkereien der untersten Preiskategorie nicht zur Verfügung stehen werde.
Die erwähnte Ausstellung ging übrigens 1976 nicht nach Salzburg und Wien weiter, sondern nach Wien, Salzburg und Linz, und das Felsenstein-Archiv zog nicht 1976 in die Akademie der Künste, sondern 1998. Geschenkt! Ich hoffe nur, dass die abenteuerlichen Hauptthesen des Buches genauer recherchiert sind.
Irgendwann werde ich die 1372 Seiten sicher auch mal komplett lesen, handeln sie doch von Dingen, die mich mein Leben lang beschäftigten. Im Moment ist mir der Appetit darauf vergangen.