18. Jahrgang | Nummer 15 | 20. Juli 2015

Die Wohltätigkeit der Satten

von Heino Bosselmann

Sechzig Prozent aller Lebensmittel, grellbunt beworben in den überbordenden Endlosregalen der Supermärkte, säckeweise in Backtheken geschüttet und an Fleischständen kunstdarmprall gestapelt, können in Deutschland gar nicht abverkauft und konsumiert werden, weil sie einfach von vornherein überschüssig sind. Trotz oder wegen der allgemeinen Überfressenheit. Und vor allem, weil wir ja Wachstum brauchen.
Der Handel lässt diese Ware täglich und noch schick verpackt zur Vernichtung karren. Die Lebensmittel-Discounter nehmen das in Kauf, weil die Auslagen nun mal voll sein müssen. Das Auge isst eben mit und will das Schlaraffenland sehen.
Passend dazu teilten die Abendnachrichten von NDR-MV mit, dass in der Müritzregion 2.000 Menschen durch „Die Tafel e.V.“ mit überständigen Lebensmitteln aus Supermärkten versorgt würden. In Worten: Zweitausend Menschen in einem dünnbesiedelten Landkreis! – Diese Meldung wurde mit so aufgekratztem Frohsinn anmoderiert, als wäre ein weiteres kunterbuntes Event der solidarischen Zivilgesellschaft zu vermelden.
Zweitausend Menschen im Müritzgebiet, dem Altkreis Waren (Müritz), müssen sich offenbar von Almosen ernähren, in einer Region des Bundeslandes Mecklenburg-Vorpommern, die dank Tourismus, Dienstleistungssektor und sogar Gewerbe vergleichsweise intakt ist. Dass dort von Wohlhabenden und Honoratioren Pappkisten mit Lebensmitteln an Familien verteilt werden, wird im öffentlich rechtlichen Fernsehen zur guten Nachricht! Kein Gedanke daran, etwa Hintergründe aufzuzeigen, die erhellten, weshalb die soziale Situation so fatal ist: Wo es unanständigen Reichtum gibt, dort gibt es folgerichtig unanständige Armut.
Sicher, man sollte Respekt haben vor den Helfern der „Tafeln“. Sie engagieren sich in sehr ehrenwerter Weise! Man muss den Initiatoren dankbar sein, keine Frage.
Nur stelle man sich bloß einen Augenblick lang vor, was eine solche Meldung für Bewegung ausgelöst hätte, würden Kennzeichen D oder das ZDF-Magazin mit Gerhard Löwenthal vor 1990 vermeldet haben, im Landkreis Waren (Müritz) müssten sich 2.000 Menschen von gespendeten Lebensmittelpaketen ernähren! Nicht nur die Kirchgemeinden im Westen hätten sofort mobilisiert! So wie zur Zeit des Kriegsrechts in Polen im Dezember 1981, nein, man hätte die DDR als armseliges Entwicklungsland vorgeführt und sich im medialen Hohn politisch überhaupt nicht mehr beherrschen können!
Die Leute mit redlich erarbeitetem Brot zu versorgen, das haben sogar die ostelbischen Gutsbesitzer zu Bismarcks Zeiten vermocht; und dem traditionsreichen Sozialstaat Deutschland war es einst Ehrensache, dass Fürsorge nicht für Hunderttausende oder gar Millionen die Regel ist, sondern die notwendige Ausnahme bleibt.
Bevor man analysiert, sollte man das bloße Phänomen auf sich wirken lassen, die Tatsache also, Dass es genau so ist. Dass wir so weit heruntergekommen sind! Und ein öffentlich-rechtlicher Landessender mit dem jungpionierhaften Sunny-Boy-Stolz eines aalglatten Moderators darüber berichtet, dass es ja zum Glück die „Tafeln“ rühriger Bürger gibt, die armen Menschen uneigennützig helfen – und all die freundlichen Supermärkte, die Bananenkisten mit Lebensmitteln für all die Bedürftigen füllen lassen, weil die großen Fressketten ja ohnehin über die Hälfte der frisch und knackig zu präsentierenden Nahrungsmittel wegwerfen müssen oder sie durch Recycler in Strom und Wärme verwandeln lassen. In grüne Biokraft, ganz gemäß der angestrebten Energiewende! Oder zu Komposterde. Weil es der Markt so will! Weil es der Kunde genau so will!
Ja, das ist nun wieder eine ganz andere Geschichte, wird man sagen. Nein, es ist genau dieselbe, denn beides hängt zusammen. Über den Markt, der ja alles regeln soll und dabei zum einen Übermaß produziert, zum anderen dank Effizienz eine Menge Menschen „freisetzt“, die von der Transfergemeinschaft geatzt werden müssen, weil sie in der Exklusion nicht mehr für sich und ihre Kinder sorgen können.
Nein, es bedarf nicht immer der ökonomischen Ursachenbeschreibung, es genügen manchmal die Phänomene selbst, der gesunde Menschenverstand, unser Einfühlungsvermögen, der Gerechtigkeitssinn – und einfach der Zorn. Zorn nicht etwa gegenüber den armen Menschen, die sich im Abseits helfen lassen müssen, schon gar nicht gegenüber ihren Helfern, natürlich nicht!, sondern gegenüber den Zuständen – dass die so sind, wie sie sind. In einem Bundeslandland, das sich exekutiv mit unerhörter Eitelkeit präsentiert und sich eine teuer bezahlte Provinzregierung leistet, für die Tausende Menschen in dem Notstand, sich ihre Nahrungsmittel nicht selbständig erwerben zu können, nicht „Chefsache“ sind.