18. Jahrgang | Nummer 13 | 22. Juni 2015

Wanderlust. Am Wegrand notiert

von Erhard Weinholz

Wanderlust, das Wort habe ich neulich im New Yorker gelesen. Anscheinend gehört es zur Eigenart der Deutschen, dieses Wandern. Ebenso wie die Naturverbundenheit, die Liebe zum Wald, der wir diese Lust ja erst verdanken. Und das alles, hängt es vielleicht mit dem sogenannten deutschen Sonderweg zusammen? Aber von dieser Sonderweg-Idee hält man wohl heute nicht mehr viel. Genug gerätselt, ich habe noch zu packen.
Ausstieg in Medewitz (Mark): „Stackelitz 6 km“. Es geht ins Anhaltische hinüber; ich laufe und laufe, durch Wälder, an Wiesen und Äckern vorbei; in der Ferne wieder ein Schild: Fünf Kilometer nun? Oder gar sieben? Es ist das Ortseingangsschild.
Die Mittagsglocken läuten, doch nirgendwo eine Bank in dem menschenleeren Dorf. Ich setze mich am Straßenrand auf einen Plattenwagen, packe mein Essen aus, und gleich kommt, sozusagen aus dem Nichts, ein rotgesichtiger Mann angestiefelt und fragt mich, was ich da zu suchen habe. Wäre ja noch schöner, wenn hier jeder… Oder lauern sie hinter mir im Gehöft, warten, bis ich mir eine anstecke, um dann herauszuspringen? Na, das hamwa gerne, erst alles vollkrümeln, und jetzt noch… Und könnse nicht lesen? „Zu verkaufen!“ Ja glauben Sie, das kauft einer, wenn Sie draufsitzen? Aber es kommt nur die Postfrau, die ich um Auskunft bitte. Nichts los in diesem Stackelitz.
Es ist schwül geworden; ich laufe am Waldrand entlang, immer in der Sonne. Hin und wieder Rückblicke: Ein langes Wegstück liegt schon hinter mir, die Naturpark-Station, mein nächstes Ziel, rückt näher. Doch was hilft es? Der Weg bleibt mühsam bis zuletzt. Merkspruch: Voranzukommen heißt nicht, schon am Ziel zu sein. Aber wahrscheinlich ist er nicht originell.
Niemand zu sehen an der Station. Vielleicht geschlossen? Aus betrieblichen oder technischen Gründen, wegen Krankheit oder aus Mangel an Pflichtbewusstsein, wer weiß. Es könnte auch ein Schild aushängen: „Gerade heute geschlossen“ oder „Zu früh gefreut“, dazu eine herausgestreckte Zunge. Mit solchen Schildern ließen sich sogar Geschäfte machen, ich bin bloß zu faul dazu.
Die Station hat geöffnet, ich bekomme einen Kaffee, Kekse und zwei Ansichtskarten und stecke zum Dank zwei Euro in einen tönernen Schweinebauch.
Im Dorf darauf fährt eine alte Frau an mir vorbei, steigt vom Rad, in der Hand ein ganz ungebräuchlich gewordenes Gerät: einen aus Rohr geflochtenen Teppichklopfer. Angeblich wurden damit auch Kinder verwamst. Vielleicht war sie deshalb damit unterwegs.
Hundeluft heißt das Dorf übrigens. Ein Ortsname, den man als Autor nicht erfinden dürfte. Zudem wenig werbewirksam. Höchstens „Karneval in Hundeluft”, das würde vielleicht noch gehen.
In einer schönen Waldpension habe ich übernachtet, wo nahebei der Mühlbach übers Wehr rauscht, zwei Freunden habe ich geschrieben, gegen Neun wandere ich los. Als ich den ersten Briefkasten erreiche, ist er gerade geleert, die nächsten sind es ebenso. Macht nichts, irgendwann am Nachmittag komme ich in Coswig an, und da hängt am Postamt bestimmt ein Kasten mit Spätleerung. Gleich mal schauen… nichts zu finden auf meiner neuen Landkarte. Auch bei der Legende fehlt das Zeichen für Postamt; es gibt anscheinend, außer in Berlin und größeren Städten, keine Postämter mehr.
Die Dorfgasthöfe heißen „Zum Kegel“, „Zu den Linden“, es stehen auch drei davor, „Zum Eichenkranz“ und „Zur Einkehr“. Die Schaukästen neben dem Eingang sind leer, auf den Treppenstufen sprießt Gras, dazwischen Hirtentäschel und Butterblume.
Neben manch anderem sammle ich Straßennamen. Funde diesmal: KAP-Straße. Das Kürzel steht nicht für Kommunistische Arbeiterpartei, sondern für Kooperative Abteilung Pflanzenproduktion. Anderswo: Straße der Bereitschaft. Das ließe sich noch steigern: der ständigen Bereitschaft, der erhöhten Bereitschaft. Oder der Bereitschaftspolizei. Möglich wäre auch eine Straße der Hilfsbereitschaft. Dort zu wohnen verlangt einem natürlich einiges ab.
Schon beginnt der dritte und letzte Wandertag. Es ist der Himmelfahrtstag, kaum Verkehr auf der sonst meilenweit hörbaren B 187, aber dort am Straßenrand entlang bis Wittenberg zu laufen reizt mich ebenso wenig wie das, was die Karte an Vorschlägen bietet. Ich mache es mal so: Erst noch ein Stück neben der Fernstraße entlang, dann nach links und am Friedhof vorbei, über die Bahnstrecke und dahinter irgendwie weiter durch die Wälder.
Der Friedhof liegt hinter mir… und wo ist der Bahnübergang, den die Karte verspricht? Erneutes Auseinanderfalten: Ich sehe, ich habe mich geirrt. Was nun? Zwar laufen die Gleise hier fast ebenerdig, aber die kurze Böschung beiderseits ist steil genug. Zum Glück schaue ich mich noch einmal um, ehe ich den Abstieg versuche, und entdecke ein Stück weiter einen fußbreiten Pfad, der mich bequem hinunter- und auf der anderen Seite wieder hinaufführt. Gleich fällt mir auch ein Vorbild ein: Agnes, so Lenka v. Körber, geht den schmalen Weg.
Hier und da in den Dörfern Zwei-, auch Dreigeschosser mit Flachdach, bloße Wohnkästen, Hinterlassenschaft der Bauindustrie aus der Ära Honecker. Für eine bessere Zukunft zu bauen war damals anscheinend kaum noch möglich; fast alle stehen sie leer. Die Türen sind verrammelt, die Fenster demoliert; aus einem, wo, weiß ich nicht mehr, geisterhaftes Winken zweier sich in der Zugluft windender Gardinen.
Noch ein Straßenname: Himmelsgarten. Vorstellen kann ich mir darunter nichts, doch er weckt so wohlige Empfindungen. Oder sind die Wolken vielleicht die Himmelsgärten?
An der romanischen Feldsteinkirche in Reinsdorf letzte Rast auf dem Weg zur Wittenberger Altstadt. Vom Nachbargrundstück schallt Musik herüber, deutsche Schlager: Herrentagsfeier der Freiwilligen Feuerwehr. Manchmal wird gejuchzt. Ein älterer Mann kommt auf den Kirchhof, um ein Grab zu pflegen. Nahebei ein gut mannshoher Obelisk aus schwarzem Stein, anderthalb Dutzend Namen darauf, bei allen das gleiche Todesdatum, ein Tag im August 1915. Gestorben in Ausübung ihres Berufes, heißt es auf der Rückseite. Was da passiert sei, frage ich den Mann. Er weiß es nicht, rätselt: Vielleicht ein Unglück… im Piesteritzer Sprengstoffwerk? Gab’s das, frage ich weiter, 1915 schon? Ach, 1915? Er bückt sich, schaut nach der Jahreszahl.
Als Wegweiser dient mir zuletzt der Turm der Schlosskirche. Die Altstadt ist völlig verluthert, an allen Ecken und Enden nimmt man den Reformator für seine Zwecke in Beschlag, sogar an der öffentlichen Toilette neben der Touristen-Information. Im Bahnhof steht der Zug nach Berlin schon eine Stunde vorher bereit, ich mache es mir bequem, lese ein bisschen in Marie Luise Kaschnitz’ „Engelsbrücke. Römische Betrachtungen“, döse vor mich hin und freue mich auf mein heimatliches Bett.