18. Jahrgang | Nummer 10 | 11. Mai 2015

Mirós poetische Bild- und Sprachwelten

von Klaus Hammer

Die Surrealisten brauchten seine Kunst – diese freie, lyrische Mischung aus Volksmärchen, Erotik, zynischem Humor, Bla-bla und grotesker Absurdität. Aber er brauchte ihre surrealistischen Theorien nicht. Joan Miró war Katalane, und in seiner Kindheit war Barcelona, die Hauptstadt Katalaniens, einer der Schnittpunkte der Moderne. Als Kunststudent und noch nicht einmal 20 Jahre alt versuchte er eine klare, energisch geformte Synthese aus dem Kubismus und der fauvistischen, mediterranen Farbpalette eines Matisse herzustellen. Eines seiner schönsten frühen Bilder, „Der Bauernhof“ (1921/22), hat er noch in Spanien begonnen, aber in Paris vollendet. Hier ist die Arche Noah seiner Jugendzeit: Miró zeigt jedes Detail des Bauernhofes von Montroig, wo er aufgewachsen war. Die Vielfalt des Lebens auf dem Bauernhof (Eidechse, Schnecke, Ziege, Hund, Pferd, Kaninchen, Taube, Hühner und anderes) ist schon die Vorausschau auf das bunte Tierleben in seinen späteren Arbeiten. „Das beackerte Feld“ (1923/24) nimmt dann einige Motive wörtlich auf, aber es hat schon eine Metamorphose stattgefunden. Dem Eukalyptus auf dem Hof ist ein Auge und ein Ohr gewachsen, das Huhn scheint sich selbst gerupft zu haben und ist nun bratfertig, von einer überdimensionierten Aloepflanze flattert die Trikolore, und der krähende Hahn verschmilzt mit der Wolke dahinter. Es war diese Mutationsfähigkeit des Lebens – alles konnte unter dem Druck einer drängenden, animalischen Vitalität eine andere Form annehmen –, die den Surrealisten Mirós Arbeiten nahebrachte.
Miró, der 1983 im Alter von 93 Jahren in Palma de Mallorca starb, ist in den deutschsprachigen Ländern bekannt und beliebt. Ausstellungen wie „Miró. Mein Atelier ist mein Garten“ (Ludwigshafen 2000), „Miró. Später Rebell“ (Wien 2001), „Joan Miró. Schnecke Frau Blume Stern“ (Düsseldorf 2002), „Miró. Die Farben der Poesie“ (Baden-Baden 2010), „Miró. Von der Erde zum Himmel“ (Wien 2014) haben in den letzten Jahren ganze Besucherscharen angezogen. Die Ausstellung „Miró. Malerei als Poesie“ im Bucerius Kunst Forum in Hamburg (bis 25. Mai) und in der Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in Düsseldorf (13. Juni bis 27. September 2015) will nunmehr demonstrieren, dass die Ausstrahlung der Kunst Mirós aus der Beziehung des Malers zu Sprache und Literatur schöpft. Das Paris der 1920er Jahre verband den Künstler mit vielen der wichtigsten Autoren seiner Zeit.
Indem er Buchstaben, Wortfragmente und schriftartige Zeichen verwendete, trennte er die Schrift von der Logik. Was in dadaistischen Lautgedichten mit dem Klang geschah, entstand bei Miró durch ein fremdartiges Aussehen von Worten, die sich nicht entziffern lassen und doch als Schrift erkennbar sind. Damit löste der Maler-Dichter Miró die Sprache aus dem Kontext der geschlossenen Sätze und die Worte und Buchstaben aus ihrer semantischen Begrenzung heraus. Er malte so, wie seine Dichterfreunde schrieben, nahm deren Anregungen auf und gab selbst dem Freundeskreis vielfältige Impulse. Seine Malbücher – er hat in über 50 Jahren mehr als 250 Bücher gestaltet – entstanden aus dieser Konstellation. Miró ließ sich in den druckgraphischen Techniken ausbilden, um seine Bilder zu drucken wie die Dichter ihre Bücher.
In dem Bild-Gedicht „Étoiles en des sexes d’escargot“ (Sterne im Geschlecht der Schnecken) von 1925 umschließt ein roter Kreis auf ockerfarbenem Grund einen zeichenhaften schwarzen Stern mit Kometenschweif. Darunter verläuft eine offene Rechteckform ins Nirgendwo. Blaue Kringel links oben scheinen Wolken anzudeuten. Darüber ist der Titel des Bildes geschrieben. Indem Miro die Form von Sternen mit den Geschlechtsteilen von Schnecken vergleicht, will er dem Betrachter viele metaphorische Assoziationen eröffnen. In „Amour“ von 1926 ist nur ein einziges Wort ins Bild gesetzt. Das schemenhaft erkennbare A bildet zugleich die dünnen Beinchen einer aus verschiedenen Segmenten geformten Figur. Der rote Kopf, die gelben Brüste, der weiße Bauch und ein Stern als Körperöffnung verweisen auf unterschiedliche Bezugsebenen der Liebe.
Von den zwischen 1925 und 1927 entstandenen Bild-Gedichten, mit denen er die Gattungsgrenzen von Literatur und bildender Kunst überschreiten wollte, hat „Photo. Das ist die Farbe meiner Träume“ am stärksten gewirkt. Auf weißem Bildgrund steht das Wort „Photo“ und neben einem blauen Fleck der Satz „ceci est la couleur de mes rêves“ (Das ist die Farbe meiner Träume). Neben die Farbe Blau als Ausdruck der Hoffnung und des Traums stellt der Maler Worte als neues Material seiner Kunst vor.
Nach der Monochromie der 1920er Jahre kehrte Miró in den 1930er Jahren zur Figuration zurück. Das Gemälde „Personnages rythmiques“ (Rhythmische Figuren) von 1934 zeigt Figurationen in Schwarz, Weiß, Rot und Gelb, die vage an menschliche Gestalten erinnern, vor farblich changierendem Grund. „Nocturne“ (1938) gibt eine Landschaft mit tiefschwarzem Himmel wieder. Nach dem Militärputsch Francos antwortete Miró auf die Bombardements aus der Luft mit Schreckensbildern. Er engagierte sich für die Republik Spanien und schuf mit dem heute verschollenen Monumentalbild „Paysan catalan en révolte“ (Katalanischer Bauer im Kampf) – anders als die abstrakten Figurationen von 1934 – einen aktionsbereiten Bauern, der für seine Freiheit zu kämpfen bereit ist.
In den „Sternbildern“ – zwischen 1938 und 1950 – erweiterte Miró seine Zeichenwelt um eine kosmische Dimension. In der Serie „Constellations“ entwickelte er eine private Mythologie. Die Verbindung von Punkten durch Linien ist mit einer Sternenkarte vergleichbar. Punkte und Linien werden mit Symbolen wie Augen, Vögeln, Sternen und Gesichtern kombiniert.
War die Schrift zunächst ein dem Bild fremdes Element, wurde sie später zunehmend in die Komposition eingebunden und tritt dann in den „Schriftbändern“ (1944-1972) als Protagonist hervor. Buchstaben gehen in zeichenhafte Formen über, aus denen wieder Figuren entstehen.
Markant sein Selbstporträt von 1960 – über ein detailgetreues Selbstporträt aus den 1930er Jahren setzte Miró eine Gestalt darüber. Eine neue Richtung von entfesselter Gestik und wilder Zerstörungswut setzte nun ein. Nicht in einer offenen, appellativen Anklage äußerte sich seine Kritik an den Zuständen in Europa, sondern in der Reflexion auf der Ebene des Tragisch-Komischen und der Groteske. Mit seinen Büchern zu Alfred Jarrys brutalem König Ubu schuf er eine Parodie auf den Diktator Franco.
In den Chiffrenbildern der 1960er Jahre kommt die Typographie zum Einsatz. Es sind meist weißgrundierte Leinwände mit teils gewischten, teils aufgesprühten leuchtenden Farben, auf die er große schwarze Buchstaben und Zahlen mit Schablonen auftrug. Mit seinen Illustrationen des „Sonnengesangs“ von Franz von Assisi, in dem dieser 1225 die Schöpfung Gottes pries, konzentrierte sich Miró auf wenige Elemente wie Mond und Sonne – als Stellvertreter für Tag und Nacht –, Motive, die ihn seit den „Constellations“ der 1940er Jahre immer wieder beschäftigt hatten.
Unter den Malerbüchern, die eine Verschmelzung von Bild und Wort darstellen, ist Mirós künstlerisches Hauptwerk wohl „À toute épreuve“ (Allem widerstehend) mit Gedichten von Paul Eluard (1958). Dieses Holzschnittwerk – die Holzschnitte tanzen in großer Leichtigkeit rhythmisch über die Buchseiten – wird als Nachfolger von Gauguins „Noa Noa“ (1894) gesehen. „Parler seul“ (Alleine sprechen, 1948-1950) nach Texten von Tristan Tzara wurde in seiner monolithischen Bilderschrift als Prototyp des livre de peintre der Nachkriegszeit gefeiert und mit den Lithografien Bonnards in Verlaines „Parallélement“ verglichen. Intensiv widmete sich Miró den Dichtern des ausgehenden 19. Jahrhunderts, vor allem Arthur Rimbaud und Alfred Jarry. Zur Parodie über den grausamen, habgierigen und gefräßigen König Ubu gestaltete er drei Bücher in einer ungewohnt rohen Bildsprache, um Kritik an konkreten Personen und Zuständen – vor allem an dem Diktator Franco – unmissverständlich zu äußern.
Miró schuf ein persönliches Zeichenuniversum, in dem visuelle Imagination und sprachliche Bilder zusammenfallen. Muss man, fragt diese Ausstellung, seine Kunst nicht stärker als Sprachkunst ansehen, die „gelesen“ werden kann? Aus der Dichtung – so der Rimbauds – hat der Malerpoet das Grundinventar seiner Zeichen- und Figurensprache entwickelt. Der Text ist bei ihm erster Impulsgeber, nicht das Unbewusste.

Miró. Malerei als Poesie, Bucerius Kunst-Forum Hamburg, bis 25. Mai; Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen, Düsseldorf, 13. Juni bis 27. September. Katalog: Hirmer Verlag, München, 224 Seiten, 39,90 Euro.