von Sarcasticus
Nähme man die sicherheits- und militärpolitischen Debatten, wie sie seit längerem insbesondere in Washington, im Baltikum und in Polen sowie im NATO-Hauptquartier geführt werden, ernst, hätte man schlaflose Nächte, denn man müsste von Russland nur noch das Schlimmste gewärtigen.
Sollte dessen Präsident allerdings tatsächlich beschließen, sich nach der Krim und der Ostukraine als nächstes Estland, Lettland und Litauen zu krallen, dann würden ihn Broschüren der litauischen Regierung, mit denen dortige Schulkinder über das Verhalten bei russischen Bombenangriffen instruiert werden, kaum davon abhalten. Dafür dürften auch die einhundert Abrams-Panzer, die die USA mittlerweile im Hafen von Riga angelandet haben, nicht genügen. Noch je eine Kompanie amerikanischer Fallschirmjäger à 150 Mann, die in jeder der baltischen Republiken seit 2014 stationiert sind. Noch die an einer Hand abzuzählenden Kampfflugzeuge aus wechselnden europäischen NATO-Staaten, die zwischen Tallinn und Vilnius bereits seit einigen Jahren Luftverteidigung spielen. Und schon gar nicht das Operetten-Militär Estlands, Lettlands und Litauens, das – zusammen (!) – weit weniger Soldaten in den Schützengraben brächte, als allein die Polizei von Sankt Petersburg Angehörige zählt.
Auch die neue NATO-Speerspitze im Umfang von 5.000 Mann, die irgendwann einmal binnen 48 Stunden vor Ort sein können soll, müsste im Falle des Falles wohl an der schwedischen Gegenküste abgesetzt werden, da eine handstreichartige russische Besetzung des Baltikums keine zwei Tage in Anspruch nehmen dürfte.
Nun macht jedoch allein der Sachverhalt, dass eine solche Invasion für Russland eine nur marginale militärische Herausforderung wäre, aus der baltischen Trinität noch keine attraktive Kriegsbeute. Die Frage, warum Wladimir Putin ein so infantiles Unternehmen also überhaupt starten sollte, stellen die Debattierer zwischen Washington und Warschau daher in der Regel vorsichtshalber erst gar nicht …
Im Übrigen gäbe es weit interessantere potenzielle Objekte Moskowiter Begierde, die an militärischer Potenz auch nicht mehr aufzuweisen haben als ein größerer Schützenverein. Zum Beispiel Deutschland mit seiner Bundeswehr.
Schon wenn Putin regelmäßig eine deutsche Presseschau hielte, was ihm ob seiner Sprachkenntnisse ein Leichtes sein sollte, müsste es ihn in den Fingern jucken. Etwa wenn er läse: „Auf jede Soldatin, jeden Soldaten im Auslandseinsatz kommen mehr als dreißig, die sich in Deutschland um sie kümmern – sie ausbilden, mit Ausrüstung und Lebensmitteln versorgen, medizinisch betreuen […]. Unter den größeren westlichen Armeen hat keine andere einen ähnlichen Betreuungsschlüssel“, so FAZ.NET.
Heißt das – nach Adam Riese – im Klartext womöglich, dass von den 260.000 Militärangehörigen und Zivilbeschäftigten der Bundeswehr nicht einmal 9.000 jeweils zur gleichen Zeit kämpfen könnten?
Und als ob das nicht schon Horror genug wäre: Die schössen ja auch noch ganz überwiegend mit dem Standardgewehr G36 – bei Dauerfeuer also ganz überwiegend daneben. Denn wenn der Lauf dieses Schießprügels sich erhitzt, „schlagen die Kugeln bis zu sechs Meter entfernt vom Ziel ein“ (Spiegel). Beziehungsweise: „Die Trefferwahrscheinlichkeit sinkt dann bei Entfernungen von 300 Metern allein aufgrund der Streuung auf circa ein Drittel.“ (Berliner Zeitung)
Da mag mancher sich damit trösten, dass die Bundeswehr neben dem G36 gottseidank noch andere Bewaffnung und Ausrüstung im Portfolio hat. Doch ist dieser Trost nur so lange wohlfeil, wie man dazu keine weiteren Fragen stellt und vor allem nicht DIE ZEIT liest! Anderenfalls wäre man dieser Tage zum Ist-Stand der deutschen Teilstreitkräfte auf den neuesten Stand gebracht worden:
Marine
– U-Boot 212 A – Bestand: vier; voll einsatzfähig: eins;
– Bordhubschrauber Mk 88 Sealynx – Bestand: 22; voll einsatzfähig: null;
– Marinehubschrauber Mk 41 Seaking – Bestand: 21; voll einsatzfähig: drei;
– Fregatten – Bestand: 11; voll einsatzfähig: sieben;
– Korvette K 130 – Bestand: fünf; voll einsatzfähig: zwei.
Luftwaffe
– Raketenabwehrsystem Patriot – Bestand: 13; voll einsatzfähig: sieben;
– Transportflugzeug C-160 Transall – Bestand: 56; voll einsatzfähig: 21;
– Kampfbomber Tornado – Bestand: 89; voll einsatzfähig: 36;
– Kampfjet Eurofighter – Bestand: 109; voll einsatzfähig: acht;
– Transporthubschrauber CH-53 – Bestand: 67; voll einsatzfähig: sieben.
Heer
– Transportpanzer GTK Boxer – Bestand: 180; voll einsatzfähig: 70;
– Panzerhaubitze 2000 – Bestand: 89; voll einsatzfähig: 76;
– Kampfhubschrauber Tiger – Bestand: 31; voll einsatzfähig: zehn;
– Transporthubschrauber NH-90 – Bestand: 33; voll einsatzfähig: zwei;
– Kampfpanzer Leopard 2 – Bestand: 273; voll einsatzfähig: 232.
Apropos Leo 2: Hier hat die Verteidigungsministerin kürzlich eine Verstärkung angeordnet – für 22 Millionen Euro sollen 100 bereits ausgemusterte Fahrzeuge reaktiviert werden.
Ein richtiges Zeichen gegenüber Moskau zum richtigen Zeitpunkt, lobten einige Kommentare. Ein Zeichen allerdings, das etwa Lesern des Manager Magazins nur ein mitleidiges Lächeln entlockt haben dürfte, wusste deren Postille doch vor einiger Zeit von insgesamt 15.000 Panzern auf russischer Seite zu berichten. Da war zwar viel alter Schrott in Depots mitgezählt, doch als tatsächlich bei der Truppe verfügbar weist auch die aktuelle Military Balance des Londoner Instituts für Strategische Studien immerhin noch über 2.600 Fahrzeuge (Main Battle Tanks) aus. Vor diesem Hintergrund lehren 100 Bundeswehr-Panzer mehr Moskau möglicherweise manches – das Fürchten aber gewiss nicht.
Zumal von der Leyens Entscheidung vollends dadurch zur Farce wird, dass die Bundeswehr leider über keine panzerbrechende Munition verfügt, um „die neueren Varianten der T-80- und T-90-Panzer (Russlands – Ergänzung S.) zu durchschlagen“. Das enthüllte Hans Rühle, Chef des Planungsstabes im BMVg von 1982 – 1988, in der Welt am Sonntag vom 26. April 2015; auch die modernste DM63-Munition der Bundeswehr – mit Pfeilgeschossen auf Wolframbasis – könne dies nicht. Das Problem, so gab Rühle gleich noch eins mit, existiere seit nunmehr über 30 Jahren: Schon 1984 hätte der Leo mit seiner damaligen Kanone und Munition dem gerade neuen russischen Modell T-80 nicht beikommen können. Damit sei, so Rühles Verdikt, „die weitere Aktivierung ausgemusterter Panzer militärisch sinnlos – und im besten Fall dazu da, Freund und Feind durch ein Placebo ruhigzustellen“.
Soweit zu Putins möglicher deutscher Presseschau.
Das Einzige, was einen ob dieser Zustände und ob der Russland angedichteten Aggressivität tatsächlich noch zu verwundern vermag, ist, dass die Russen nicht schon lange (wieder) hier sind. Dafür sind durchaus unterschiedliche Gründe denkbar. Einer könnte zum Beispiel darin bestehen, dass die Bundeswehr mit ihren Problemen nicht allein auf weiter Flur steht …
P.S.: Als ein auch heute noch existentes Hamburger Nachrichtenmagazin Ende 1962 dem Feind, der Sowjetunion, in einem Beitrag unter der Überschrift „Bedingt abwehrbereit“ – damals die niedrigste von vier offiziellen NATO-Bewertungsstufen für die Verwendungsfähigkeit von Streitkräften für eine militärische Auseinandersetzung mit Moskau – den jammervollen Zustand der Bundeswehr preisgab , schrie der Verteidigungsminister „Landesverrat!“ Und ließ den Autor des Beitrags im zwar faschistischen, doch irgendwie trotzdem befreundeten Franco-Spanien und die Spitze des Nachrichtenmagazins in der Hansestadt arretieren. Der daraufhin losbrechende politische Skandal, der den Verteidigungsminister schließlich das Amt kostete, wurde der bis dato heftigste in der noch jungen Bundesrepublik und erschütterte deren Semi-Demokratie (die Grundgesetz genannte Verfassung war zwar ein für ein bürgerliches [Teil-]Deutschland unleugbarer Fortschritt, doch mindestens die politische, judikative, mediale, militärische sowie schulbildende und universitäre gesellschaftliche Praxis war mit alten Nazis durchseucht) bis in die Grundfesten.
Heute könnte die Überschrift eines vergleichbaren Beitrages noch kürzer ausfallen: „Abwehrunfähig!“ – regte aber, da Affären und Skandale längst das Tagesgeschäft der Bundeswehr prägen, niemanden mehr wirklich auf …
Schlagwörter: Affäre, Baltikum, Bundeswehr, G36, Leopard, Sarcasticus, Skandal