18. Jahrgang | Nummer 6 | 16. MĂ€rz 2015

Was tun? Kriegsende, Russen und Deutsche

von Götz Aly

Zum 70. Jahrestag des Kriegsendes sollten wir Deutsche vor allem auch die Leistungen der sowjetischen Soldaten bei der Befreiung vom Nationalsozialismus ehren. Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt? Wo, wenn nicht in Berlin?

In gut zwei Monaten, am 8./9. Mai, steht der 70. Jahrestag des Kriegsendes ins Haus, und unsere politischen ReprĂ€sentanten werden wenig Anstalten machen, an diesem Tag die sowjetischen Soldaten zu ehren, die die Hauptlast des Krieges trugen und schließlich die Deutschen von sich selbst befreiten. Wenn es unsere gewĂ€hlten Vertreter nicht tun, dann sollten die Berliner die Sache in die Hand nehmen. Wer, wenn nicht wir? Wann, wenn nicht jetzt zum 70. Jahrestag? Wo, wenn nicht in Berlin?
Der Sieg ĂŒber das damalige Deutschland musste mit harter militĂ€rischer Gewalt erkĂ€mpft werden, weil der innere Widerstand schwach blieb. Die damaligen Deutschen betrachteten die Kapitulation weithin als Zusammenbruch, als Katastrophe. Voller Angst warteten sie darauf, dass die Sieger all das rĂ€chen wĂŒrden, was 18 Millionen Landser, SS-MĂ€nner und Besatzungsbeamte den Völkern Ost- und SĂŒdosteuropas angetan hatten. Blutjunge Wehrmachtssoldaten, die 1944/45 in Gefangenschaft gerieten, zur Desinfektion und zum Duschen gefĂŒhrt wurden, wussten plötzlich ganz genau: „Jetzt werden wir vergast.“
Achim Thom, einst Professor in Leipzig, hat das so erlebt und mir berichtet. Nicht nur er. Anders als unsere VorvĂ€ter wissen wir Heutigen, dass wir den Frieden, unseren Wohlstand, das GlĂŒck unserer Kinder und Kindeskinder allein der deutschen Niederlage verdanken. Deshalb gilt es, diesen Tag mit einem Volksfest zu feiern. Deshalb muss an diesem Tag der Opfer des beispiellosen deutschen Eroberungs-, Raub- und Vernichtungskrieges gegen Osteuropa in besonderer Weise gedacht werden. FĂŒnf Millionen Tote in Polen, 27 Millionen in der ehemaligen Sowjetunion, darĂŒber hinaus ungezĂ€hlte Menschen, die dauerhaft um ihr LebensglĂŒck gebracht worden sind, Hungersnöte und die vollstĂ€ndige VerwĂŒstung ganzer Landstriche – all das kennzeichnete den von Deutschland gewollten Krieg.
Nach Moskauer Zeit wird in den Staaten der ehemaligen Sowjetunion und in Israel der 9. Mai als Tag des Sieges ĂŒber Deutschland gefeiert. In diesem Jahr ist das praktischerweise ein Samstag. Deshalb schlage ich vor, dass sich möglichst viele Berliner am Vormittag des 9. Mai um 11 Uhr am sowjetischen Ehrenmal nahe dem Brandenburger Tor treffen und dort Blumen niederlegen. Eine Blaskapelle sollte zunĂ€chst Trauermusik intonieren und dann StĂŒcke spielen, die der Freude ĂŒber die Befreiung Schwung geben. All das hat nichts, aber auch gar nichts damit zu tun, ob man die Politik der heutigen russischen FĂŒhrung zu verstehen versucht oder bekĂ€mpft, auch spielt keine Rolle, wie und was man ĂŒber die Verbrechen Stalins oder des Kommunismus denkt.
In dieser Stunde und an diesem Morgen kann es nur um eines gehen: um eine große, öffentlich wirksame Geste des MitgefĂŒhls, der SolidaritĂ€t und der Freundlichkeit der heutigen Berliner, gerichtet an die von Deutschland ĂŒberfallenen Völker der ehemaligen Sowjetunion, an die Familien der ermordeten, verschleppten und geschundenen Zivilisten, der gefallenen, verkrĂŒppelten und ermordeten Soldaten der Roten Armee. Dazu braucht man ein kleines Komitee, das die Veranstaltung anmeldet – dann wird fast von selbst eine beachtliche Volksbewegung entstehen. FĂŒr die Musiker habe ich eine Idee, einen Redner finden wir auch.

Aus: Berliner Zeitung, 03.03.2015.
Übernahme mit freundlicher Genehmigung des Autors und des Verlages.