18. Jahrgang | Nummer 6 | 16. März 2015

Querbeet (LIII)

von Reinhard Wengierek

Fundstücke im Kunstgestrüpp: Diesmal Graue Panther als Salonlöwen, Dirty Richie als Sternschnuppe und Dada-Blabla im Farbrausch …

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Thomas Ostermeier, Chef der Schaubühne, dem derzeit erfolgreichsten Theater Berlins, hat sich von seinem Bühnenbildner Jan Pappelbaum in den Saal C seines feinen Hauses mit großem Aufwand ein elisabethanisches Theater bauen lassen, eine Art „Globe“; mit massig Holz, stammend aus einem abgerissenen Motodrom. Das Publikum sitzt übereinander gestapelt auf drei Rängen im Halbrund über einer mit Sand gefüllten Arena – bisschen wie im Zirkus. Und gegenüber vom Sand bis zur Kuppel eine hölzerne Palastarchitektur für artistische Auf- und Abtritte. Aus dem Bühnenhimmel hängt ein Seil mit Mikro und LED-Strahler, an dem sich „die Pestepidemie von einem Mann“ hinauf- und herabhangeln und frei schwingen kann. Es ist natürlich nicht Tarzan aus dem Kino, sondern Richard III. aus Shakespeares gleichnamigem Königsdrama.
Schon das bloße dicke, lange Seil als spektakulär-spezielles königliches Spielzeug macht uns klar: Hier macht allein Richie das Ding, sein Ding, sein Drama. Und das ist auch bei Shakespeare so. Die Titelfigur als absoluter Solitär, so inszenierte Ostermeier vor Jahren schon den „Hamlet“; das war bei Shakespeare nicht ganz so. Trotzdem, es wurde für Ostermeier und seinen Star Lars Eidinger ein Wahnsinnserfolg, inzwischen mehr als 230 Mal weltweit gespielt.
Jetzt ist Eidinger Richard, und die vielen schwächlichen Figuren um ihn herum, die er auf seinem blutigen Weg zum Thron gebraucht, missbraucht, umbringen lässt, sind nur Staffage, sind mehr oder weniger willige Gehilfen für Richards kaltblütig mörderischen Aufstieg nach ganz oben. Steht so beim Autor, der die Karriere dieses Serienkillers nicht noch dadurch spannender macht, dass er ihn als verwachsene „Missgeburt“ ausstaffiert – was freilich Eidinger, ganz Theatertier, besonders ausstellt durch seinen umgeschnallten Buckel, den Klumpfuß, die verkrüppelte Hand, die Prothese im Gebiss sowie den spastischen Gang. Shakespeare macht aus seinem vielfach körperbehinderten Killer eine einzigartig gleißende, hinreißend eloquente, unglaublich verführerische Intelligenzbestie. Die kennt sich selbst, und die kennt die Welt. Lars Eidinger spielt das hinreißend. Jeder Monolog, jede Szene ein Meisterstück an rhetorischer Überzeugungskunst. Da wundert sich Richard sogar selbst: Was für eine teigige, nach Gutdünken total manipulierbare Welt ist das, die sich da nach Lust, Ehrgeiz, Gier unheimlich flott zurechtformen lässt; man muss nur skrupellos Gas geben und geschickt drauflosreden: schon frisst einem alle Welt aus der Hand … – Menschliche Hybris trifft auf Erschlaffung, auf eine Gesellschaft, die schier alles mitmacht und mit sich machen lässt, wenn man sie nur entsprechend bearbeitet. Richard, der perfekte Machttechniker, der geniale Propagandist. Das ist der zeitgenössisch relevante, höchst brisante Kern dieser hoch artifiziellen Inszenierung. Unsinn, wer da bloß herablassend lästert über Eidingers virtuose One-Man-Show; dabei kennt doch die Geschichte wie die Gegenwart genug derartige Unheil und Verwüstung über die Menschheit bringende Ein-Mann-Veranstaltungen.
Natürlich wäre Ostermeier nicht Ostermeier, würde er nicht zum Schluss der gut zweistündigen Richard-Monomanie ein so tolles wie poetisch sinnfälliges Ende arrangieren: Da klettert Eidinger, wie Gott ihn geschaffen hat, also (fast) nackt, in einem grausigen Albtraum im dunklen Saal an seinem schwankenden Seil mit der Lampe hinauf in die Höhe, höher und höher bis in die Finsternis des Himmels. Bis dort das Licht – einer Sternschnuppe gleich – verlischt. Die verbrecherische Raserei im Irdischen verglüht schließlich weit weg und weit oben im schwarzen Nichts.

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„Die letzten Gigolos“ ist ein wehmütig-warmherziger Film für alle Freunde der Kreuzschifffahrt; und das sind vornehmlich die etwas älteren, etwas wohlhabenderen Semester. Im Mittelpunkt des reportagehaften Streifens stehen zwei graumelierte Herren um die siebzig. Ihre Kennzeichen: Wohlhabenheit, Eleganz, Eloquenz, Intelligenz, Fitness, Einfühlungsvermögen und Tanzlust. Es sind keine professionellen Schwerenöter oder Abzocker, sondern (verwitwete) gut situierte Herren, die, vermittelt von einer Agentur und engagiert von der Reederei, ihren Lebensabend teils auf Kreuzfahrtschiffen verbringen (Kost und Logis frei plus kleine Aufwandsentschädigung). Um dort die lebens- und tanzlustigen alleinstehenden Damen allabendlich übers Parkett zu wirbeln und auch sonst einigermaßen geistreich zu unterhalten. Macht ihnen Spaß. Auch liegt da gelegentlich allerhand Erotik in der Salzluft, doch zu sexuellen Tätlichkeiten, um das klarzustellen, kommt es höchst selten (Kabinenbesuche sind offiziell verboten). Sind doch beide Seiten eher erpicht aufs charmante Amüsement, auf moderate Blutdruckerhöhung, auf Gesellschaft sowie, und das vor allem, auf Wiener Walzer, Fox und Tango, wobei man Glitzerkleider vorführen und obendrein zeigen kann, was Kniegelenke und Hüftprothesen noch alles hergeben. Man macht sich schick und freut sich des Lebens; so gut es noch geht. Praktizierte Lebenskunst!
Regisseur Stephan Bergmann bringt uns diese mittelständische Luxusgesellschaft auf äußerst einfühlsame Art nahe. Auch vermag er, die Senioren gesprächsweise zu überraschender Offenheit zu bewegen. Wir erleben herzergreifende, auch komische, sogar alberne, meist aber äußerst lebenskluge Offenbarungen. Ein berückendes Hohelied auf die (auch von Schmerzlichkeit nicht freie) letzte Lebensphase und das Privileg, sich noch ein kleines Stück vom späten Glück leisten zu können. Wofür man sehr dankbar ist – nicht zuletzt auch den beiden so sympathischen Gigolos, die sich so nicht nennen, sondern „Gentleman Host“ heißen und ganz gern ein Küsschen in Ehren vergeben – und nur ganz selten ein ganz kleines bisschen mehr als das.

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Die intellektuelle Vorlage für diesen vom Intellekt her kaum zu fassenden Abend sind Texte von Konrad Bayer, dem – so Heiner Müller – „interessantesten Autor“ der sogenannten Wiener Konkreten Poesie, Anfang der 1950er Jahre. Müller: „Bayer war das wirkliche Genie dieser Gruppe, zu der unter anderen auch Oswald Wiener, Gerhard Rühm oder H.C. Artmann gehörten, und als Genie hat er sich folgerichtig rechtzeitig umgebracht“ (mit dem Schädel im Gasherd, da war der ansonsten ziemlich dandyhafte Bayer noch nicht ganz 32 Jahre alt).
Bayer zählt zu den kauzigen Dichtern, die von der mitteilenden Funktion der Sprache angeödet sind. Vielmehr nutzen sie die Sprache als Material für abstrakte Lautmalerei, für Nonsenslyrik. Für dadaistische Verrücktheiten und Späße, die übrigens das berühmt-berüchtigte Autoren-Kränzchen Gruppe 47 erst hinreißend fand, dann aber ganz schnell als bekloppt abtat.
Bayers Kollege, Kumpel und Herausgeber Rühm erklärte, worum es ging; nämlich das sprachliche Material „aus dem kausalen begriffszusammenhang in eine art semantischen schwebezustand zu bringen“. Wer da ganz simpel die Sinnfrage stellt für den Konrad-Bayer-Abend, den Herbert Fritsch unter dem kryptischen Titel „der die mann“ über die Berliner Volksbühne wirbelt, der liegt schon falsch. Der Sinn schwebt …
Beispielsweise schreibt Bayer zig Mal hintereinander die beiden Worte „EIN UND“. Eine Reduktion, die erst durch einen bestimmten Rhythmus, eine besondere Klangfarbe, durch wechselnd chorisches oder solistisches Sprechen mit entsprechender Gestik und Bewegung zum Klingen kommt und – nimmt man all seine Fantasie zusammen – zu einer Art Sinn. Seltsame Sache, die da im bonbonfarbenen Lichtrausch durch den Bühnenraum segelt. Eben mitnichten ein Stück herkömmlicher Art, vielmehr eine graziöse Show aus Worten und Gesten, aus Sprech-, Gesangs-, Bewegungskunst, aus Farben und Musik, Licht und Luft und Stimmung. Ein wundersames, technisch perfektes, hochartifizielles Gebilde ohne Handlung, Figuren, Psychologie, wie trunken wankend zwischen Sentimentalität, Bissigkeit und Blödelei. Ein tolles luftiges Allotria einer tänzerisch-artistisch-akrobatischen Truppe aus zwei Damen und fünf Herren auf der riesigen, von fantastischen Farblichtern durchwehten Leerbühne. Es gibt also viel Wundersames zu gucken; womöglich aber – ach! – drückt so manchen trotz des bunten Treibens Langeweile. Ehrlich gesagt: Bei allem tollen Dada-Blabla: Es ist nicht recht abendfüllend. Ich hatte nach einer Stunde genug; doch es waren knapp zwei …