18. Jahrgang | Nummer 5 | 2. März 2015

Oberammergauer Passionspest

von Sarcasticus

Das Synonym zu Oberammergau lautet bekanntlich Passionsspiele. Die finden alle zehn Jahre statt. In der Zwischenzeit wird die Spielstätte für andere Inszenierungen genutzt. So teilte die Website des Ortes noch am 30. Januar 2015 mit: „Im Juli 2014 wird Christian Stückl im Passionstheater ‚Ein Sommernachtstraum‘ nach Shakespeare inszenieren.“
Klickte man am 30. Januar 2015 von dort weiter zu „Infos zu den Passionsspielen“, dann war zu lesen: „Sehr geehrte Damen und Herren, wir möchten uns bei allen Besuchern und Beteiligten für die gelungenen Oberammergauer Passionsspiele 2010 bedanken.“
Das Spektakel gilt als Hyper-Super-Mega-Event. Statt findet es seit fast 400 Jahren. Fürs vorerst letzte Mal hatten sich seit Februar 2009 alle (! – so die Homepage der Gemeinde) Oberammergauer ihre Haare, die Männer auch die Bärte, wachsen lassen. Im April 2009 durften die ersten wieder zum Coiffeur und ans Rasiermesser, denn da wurden die Darsteller bekanntgegeben. Das waren dann doch nicht alle Oberammergauer – sondern nur 2.000, die ab November probten. Zu den 100 Aufführungen im Folgejahr wallfahrteten insgesamt 500.000 Besucher. Und am Ende jeder Vorstellung hallte wahrscheinlich jeweils dumpfes Grollen übers Land, denn, so nochmals die Oberammergauer Homepage – unter tolerabler Verballhornung von Lukas 23,48: „Alle, die zu diesem Schauspiel herbeigeströmt waren und sahen, was sich ereignet hatte, schlugen sich an die Brust und gingen betroffen weg.“
Dies – wie gesagt – nur alle zehn Jahre. Oder sollte anstelle des Wörtchens „nur“ vielleicht doch besser durch „leider Gottes“ gesetzt werden? Denn mit gutem Gewissen angeraten werden kann ein Besuch keinesfalls, wie eine einschlägige Spielkritik überdeutlich werden lässt.
Das beginnt schon mit der Musik. Die habe, so eine ältere Oberammergauer Selbstbeweihräucherung, „sehr viele Freunde, aber auch heftige Gegner, jedoch müssen selbst die letzteren zugeben, daß sie reich an tiefempfundenen Stellen ist und eine Fülle schöner Melodien im Stile Haydns birgt“. Konsterniert hält der Kritiker dagegen: „Wodurch genötigt müssen sie? Sagt mir das, mein kundiger Thebaner!“ Und fährt fort: „Ich weiß eine Anzahl sehr verständiger Musiker, die die Kompositionen des Rochus Dedler mitsamt den Verbesserungen des Ferdinand Feldigl für unsäglich mattes, mühselig zusammengestoppeltes, wertloses Zeug erklären, für jenes mephistophelische ‚bübisch-mädchenhafte Gestümper, wie frömmelnder Geschmack sichs lieben mag‘.“
Das wäre an sich schon genug der Zumutung, doch der Text toppt das klangliche Flachland locker und um Längen. Dieser Text, der auf eine literarisch nur mäßig-wertige mittelalterliche Quelle zurückgeht, wurde auch durch die Bearbeitung kongenialer Oberammergauer Heimatdichter bloß das, was er seither ist – nämlich, laut Kritiker, „dieser blasse, im schlimmsten Sinn oberlehrerhafte, einen Menschen von einigem Geschmack geradezu blasphemisch dünkende Text“. Des Weiteren hält der Besprecher fest: „Man weiß, daß die Bewohner des deutsch-österreichischen Alpenlands höchst kritiklos sind. […] Aber obschon man von dieser Urteilslosigkeit weiß, erschrickt man einigermaßen, wenn man in der letzten offiziösen Veröffentlichung Oberammergaus […] auf Stellen stößt wie die folgende[…]: ‚Der steigende Besuch ist wohl in erster Linie der Schönheit des jetzigen Passionstextes zuzuschreiben […].‘“ Denn: „So ein Text mag es gewesen sein, von dem es in der Offenbarung Sankt Johannis des Theologen heißt: ‚Und ich nahm das Büchlein und verschlang es; und da ich es gegessen hatte, grimmte mich‘s im Bauch.‘”
Damit aber noch keineswegs genug der Schelte: „Das Fürchterlichste […] ist die Sprache […] Man bekommt Kopfschmerzen über dieser Prosa, die Seekrankheit über diesen Versen und begreift, warum das Vorspiel gleich im zweiten Vers die Hörer als ein ‚von Gottes Fluch gebeugtes Geschlecht‘ anspricht. […] Gemahnt die Prosa an die amtlichen Erlasse der Distriktsämter Weilheim oder Garmisch-Partenkirchen, so erinnern die Verse an Wilhelm Busch (na immerhin! – Einschub Sarcasticus).“ Auf die Wiedergabe der vom Kritiker hernach aufgereihten Beispiele aus der Prosa und der Lyrik des Passionsspiels soll hier verzichtet werden.
Durch dieselben ganz offensichtlich schwer gemartert, hat der Besprecher nun allerdings erst seine richtige Betriebstemperatur erreicht. Und schlägt den Bogen vom Verriss des Stückes zu dem von Ort und Leuten – und zwar mittels folgender Einlaufkurve: „Ihr könntet mir nun sagen: Gut, der Text sei preisgegeben; aber muß nicht die Hingebung dieser schlichten deutschen Christen, die Zeit, Geld, Mühe, Leben der Darstellung der Passion widmen, muß nicht die verzehrende Andacht zur Sache, die vierhundertjährige Tradition, die tiefe Ergriffenheit der Myriaden, die aus fernster Ferne hier zusammenströmen, kurz die alte Weihe dieses deutschen Golgatha auch einen minderwertigen Text adeln und jene religiösen Schwingungen erzeugen, die der letzte Grund aller künstlerischen Wirkung sind?“
Allein der Duktus dieser lediglich rhetorischen Bandwurmfrage lässt befürchten, dass Pardon, Absolution gar, hier nicht gegeben werden wird. Im Gegenteil: „Wer die Dinge ohne Voreingenommenheit betrachtet, sieht in Oberammergau eines der reizlosesten Dörfer des bayrischen Hochlands. […] Die Bewohner sind, wie alle bayrischen Gebirgler, stumpf und schläfrig, hinterhältig und profitgierig, geneigt zum Raufen, zum Wildern und zum Trinken. Da nur Eingeborene an Passionsspielen teilnehmen dürfen, herrscht eine traurige Inzucht, die sich für den Intellekt nicht eben förderlich erwiesen hat. […] Schauspielerisches Talent haben sie kein Quentchen.“
Dafür umso mehr Interesse am Ökonomischen: „Von dem Fanatismus, der allein das Spiel adeln, über den Alltag erheben könnte, ist kein Hauch zu verspüren. Während die Einwohner allesamt mit größter Inbrunst über die wirtschaftlichen Begleiterscheinungen der Spiele sprechen, habe ich sie niemals von der Passion als von einer innern Angelegenheit reden hören. Sie ist ein Mittel zum Zweck, nichts weiter; etwas so Äußerliches, Angelerntes wie das oberbayrische Englisch, das die Kinder der Fremden wegen in der Schule lernen.“
Dass der Kritiker den so Gescholtenen noch einen mitgibt, fällt da schon kaum mehr ins Gewicht: „Fromm ist der Oberammergauer nicht; ,tolerant‘ nennt ihn die offiziöse Schilderung; besser bezeichnet man ihn als ,wurstig‘.“
Dem Sachverhalt allerdings, dass von den Besuchern „ein Drittel Ausländer, zumeist Amerikaner“ seien, gewinnt der Besprecher denn doch zumindest etwas Positives ab: Diese würden „die Albernheiten des Textes nicht bemerken“.
Soweit die einschlägige Besprechung.
Und wer nun immer noch auch nur erwägt, 2020 dem nächsten Spektakel beizuwohnen, dem können wahrscheinlich nicht mal mehr sein Arzt oder Apotheker helfen …

P.S.: Der diesen krachenden Verriss, aus dem sämtliche verwendeten Zitate, so nicht anders angegeben, stammen, verfasste, war Lion Feuchtwanger – unter dem Titel: „Oberammergau (1910)“. Und er konnte sich zum Abschluss seines Textes noch eine weitere Sottise nicht verkneifen: „An zweihunderttausend Hörer besuchten die Passionsspiele des Jahres 1900. Wenn diese Gäste für Fahrt, Eintritt, Aufenthalt auch nur je dreißig Mark ausgegeben haben, so macht das eine Summe von sechs Millionen. Reinhardts Münchner Festspiele wiesen einen Ausgaben-Etat von dreihunderttausend Mark auf. Man könnte also mit dem Ertrag Oberammergaus den Münchnern für alle Zeit eine Bühne vom Range der Reinhardtschen sichern. Die Rechnung stimmt ein wenig schmerzlich. Ja, sie ist ganz dazu angetan, Ärgernis zu geben. ‚Wer aber Ärgernis gibt, dem wäre es besser, man hinge ihm einen Mühlstein um seinen Hals und würfe ihn ins Meer.‘ Die Herren von Oberammergau freilich wenden den frommen Satz auf ihre Kritiker an, statt auf sich selber.“
Man stelle sich die entsprechende Rechnung für die halbe Million an Besuchern im Jahre 2010 vor … Falls das hochverschuldete Berlin sich demnächst tatsächlich wieder für Olympia bewirbt, sollte es das unbedingt zusammen mit Oberammergau tun!