18. Jahrgang | Nummer 1 | 5. Januar 2015

Ein merkwürdiger Gedanke

von Lew Tolstoi

[…] Bereits sechs Monate sind vergangen, seitdem von den Bastionen Sewastopols das erste Geschoß durch die Luft sauste und die Erde auf den feindlichen Befestigungsanlagen aufwühlte; Tausende von Bomben, Kanonen- und Gewehrkugeln sind von den Bastionen zu den Laufgräben und von den Laufgräben zu den Bastionen geflogen, und über alledem hat unablässig der Todesengel geschwebt.
Tausende von Menschen sind inzwischen in ihrem Ehrgeiz verletzt, Tausende sind befriedigt worden, haben sich aufgebläht, Tausende haben ihre letzte Ruhe in der Umarmung des Todes gefunden. Wie viele Rangabzeichen wurden angelegt, wie viele wieder abgenommen, wie viele Annen- und Wladimirorden, wie viele rosarote Särge und leinene Leichendecken hat es gegeben! Und nach wie vor erschallen die gleichen Laute auf den Bastionen, nach wie vor blicken die Franzosen an klaren Abenden aus ihrem Lager mit unwillkürlichem Erbeben und abergläubischer Angst auf die aufgewühlte gelbe Erde der Sewastopoler Bastionen, nach den sich auf ihnen bewegenden schwarzen Gestalten unserer Matrosen und zählen die Schießscharten, aus denen gußeiserne Kanonen drohend herausragen; nach wie vor beobachtet der Steuermannsunteroffizier vom Telegraphenturm durch das Fernrohr die bunten Figuren der Franzosen, ihre Batterien, ihre Zelte, die sich über den Grünen Berg bewegenden Kolonnen und die über den Laufgräben aufsteigenden Rauchwölkchen; und mit unvermindertem Eifer streben aus allen Himmelsrichtungen verschiedenartige Menschenmengen mit noch verschiedenartigeren Wünschen diesem schicksalsschweren Orte zu. […]
Doch die Frage, die die Diplomaten nicht zu lösen vermochten, läßt sich noch weniger durch Pulver und Blut lösen.
Mir ist oft ein merkwürdiger Gedanke durch den Kopf gegangen: Wie wäre es, wenn die eine der kriegführenden Parteien der anderen vorschlagen würde, aus jeder Armee einen Soldaten zu entlassen? Dieser Wunsch mag absonderlich erscheinen, aber warum sollte er nicht erfüllt werden? Sodann müßte von jeder Partei ein weiterer Soldat entlassen werden, dann ein dritter, ein vierter und so fort, bis schließlich (unter der Voraussetzung, daß beide Armeen gleich stark wären und die Menge durch Tüchtigkeit ersetzt werden müßte) in jeder Armee nur noch je ein Soldat übrig wäre. Und sofern es wirklich unumgänglich ist, daß komplizierte politische Fragen zwischen vernünftigen Vertretern vernünftiger Geschöpfe durch Kampf entschieden werden müssen, sollten dann eben diese beiden Soldaten miteinander kämpfen: der eine würde die Stadt belagern, der andere sie verteidigen.
Diese Betrachtung ist, so wunderlich sie auch klingt, dennoch berechtigt. In der Tat, welch ein Unterschied besteht darin, ob ein einzelner Russe gegen einen einzelnen Vertreter der Verbündeten kämpft oder ob achtzigtausend gegen achtzigtausend kämpfen? Warum nicht ebensogut hundertfünfunddreißigtausend gegen hundertfünfunddreißigtausend? Warum nicht zwanzigtausend gegen zwanzigtausend? Warum nicht zwanzig gegen zwanzig? Warum nicht einer gegen einen? Das eine ist keineswegs logischer als das andere. Im Gegenteil. Das letztere ist bedeutend logischer, weil es menschlicher ist. Eins von beiden: entweder ist der Krieg ein Irrsinn, oder aber die Menschen, die diesen Irrsinn begehen, sind gar nicht die vernünftigen Geschöpfe, für die man sie bei uns aus irgendeinem Grunde zu halten pflegt. […]

Auszug aus – Lew Tolstoi: Sewastopol im Mai, Frühe Erzählungen.
Der Beitrag bezieht sich auf den Krimkrieg (1853-1856).
Überschrift von der Redaktion.