18. Jahrgang | Nummer 2 | 19. Januar 2015

Die Benjamins

von Renate Drommer

Die große Familiensaga, das Jahrhundert-Epos über die Benjamins ist das Buch von Uwe-Karsten Heye nicht geworden, obwohl die Schicksale der Einzelpersonen den Stoff dafür geboten hätten.
Dass es dennoch ein wichtiges Buch wurde, verdankt es eher einem unliterarischen Ereignis: Dem nicht vorhersehbaren Zusammentreffen mit dem Polittheater einer demokratischen Wahl im Freistaat Thüringen. Ich verkürze auf das Wesentliche: Der Linken als Wahlsiegerin stand das Amt des Ministerpräsidenten zu. Als sie verkündete, es ausüben zu wollen, brach ein Sturm der Empörung los, den die Leitmedien mit einer Energie entfachten, wie sie es in den Zeiten des Kalten Krieges nicht besser gekonnt hätten. „Unrechtsstaat DDR“ hieß das Argument, um den Wahlsieg der Linken zu diffamieren.
Etwa zu diesem Zeitpunkt las ich das Buch „Die Benjamins“ von Uwe-Karsten Heye. Anhand der Tragödie der jüdisch deutschen Familie blättert Heye die deutsche Geschichte des 20. Jahrhunderts auf.
Die Familienchronik der Benjamins reicht vom Kaiserreich, der Autor beschreibt ein Foto aus dem Jahre 1906, das die Geschwister Walter und Georg mit ihren Cousinen im großbürgerlichen Umfeld ablichtet, über die Weimarer Republik, das Dritte Reich bis in das geteilte Deutschland am Ende des II. Weltkrieges. Die Ur-Enkel von Georg und Hilde Benjamin, in der Wendezeit geboren, sind unsere Zeitgenossen. Eine deutsche Familie. Sie hat den Philosophen Walter Benjamin hervorgebracht, der sich auf der Flucht vor den Nazis im spanischen Grenzort Portbou das Leben nahm, das unvollendete Manuskript bei sich tragend, den Armen-Arzt Georg Benjamin, der im deutschen Widerstand kämpfte und 1942 im KZ Mauthausen ermordet wurde, Schwester Dora, die das Exil in der Schweiz überlebte, jedoch kurz nach Kriegsende ihrem Krebsleiden erlag und deren Freundin Hilde, die Georgs Frau wurde und später Justizministerin in der DDR.
„Blut-Hilde“, „Rote Guillotine“, titelten westliche Zeitungen nach 1945, und meinten die Oberste Richterin der DDR. Hilde Benjamin war von der sowjetischen Militäradministration ermächtigt, die Beschlüsse der Alliierten von Potsdam umzusetzen. Für die deutsche Justiz bedeutete das die Verurteilung der Nazi- und Kriegsverbrecher. In den Redaktionstuben von Hamburg, München und West-Berlin saßen jedoch die alten Nazi-Eliten. Für sie war die studierte Juristin und Kommunistin Hilde Benjamin ein Ungeheuer. Der Antikommunismus dieser Leute war ungebrochen. Hilde Benjamin ließ eine junge Generation von Volksrichtern ausbilden, während unter Adenauer die belasteten Altnazis unverändert in den Gerichten saßen.
Im Kapitel 10 „Alles, was Recht ist“, beschäftigt sich der Autor beispielhaft mit der Rechtsprechung in beiden deutschen Teilstaaten nach 1945. Die Siegermächte hatten in der unheilvollen Verquickung von Großindustrie und Staat die Ursache von Faschismus und Krieg ausgemacht und deren Zerschlagung angeordnet. Das Potsdamer Abkommen verlangte die Enteignung der Rüstungsbetriebe und der Großindustrie, ebenso die der Großgrundbesitzer. Doch die Amerikaner rückten bald von ihrem eigenen Auftrag ab. In ihrem Einflussgebiet nahmen sie die Durchführung der Beschlüsse nicht besonders ernst. Kommunistenverfolgung unter McCarthy in den USA, Kalter Krieg in Europa.
Die junge DDR sah sich nicht in der Tradition der Weimarer Republik, kann folglich auch nicht an ihr gemessen werden. Trennung von Kirche und Staat, Brechung des Bildungsmonopols, Gleichberechtigung von Mann und Frau, das waren bürgerliche Forderungen, die die labile, politisch zerrissene Weimarer Republik nicht erfüllt hatte. Hilde Benjamin verankerte sie in ihrem modernen Familiengesetzbuch. Das war ein Aufbruch, den es in der BRD so nicht gab.
Uwe-Karsten Heye erzählt unaufgeregt und objektiv ein Stück deutscher Nachkriegsgeschichte in Ost und West, wenn er versucht, dem Wirken Hilde Benjamins gerecht zu werden. Für mich ist es das wichtigste Thema des Buches. Dazu stand Heye auch das Familienarchiv offen, das von Ursula Benjamin gepflegt und verwaltet wird. Eine Entdeckung des Autors und sein Verdienst.
Die Einzelbiographien der anderen Familienmitglieder hingegen bleiben lückenhaft. Zu Dora Benjamin wird vorgetragen, was eine Studie des Hedwig-Hintze-Instituts in Bremen herausgefunden und veröffentlicht hat. Walter Benjamins Flucht über die Pyrenäen ist bei Lisa Fittko entnommen, ergänzt um subjektive Bilder des Autors. Bei Georg Benjamin wird auf das Buch „Arzt und Kommunist“ verwiesen. Immerhin ist sein Leidensweg umfangreich dokumentiert. Doch Fragen bleiben offen, beispielsweise zum kommunistischen Widerstand in Deutschland nach 1933, für den Georg Benjamin nach seiner Entlassung aus der Schutzhaft illegal tätig war. In einem Prozess wegen Vorbereitung zum Hochverrat wird er erneut verurteilt wurde, zu sechs Jahren Zuchthaus Brandenburg. An Emigration hat er niemals gedacht.
Dem Buch vorangestellt ist ein Prolog. Er umreißt in Kurzform das, was später so oder ähnlich in den einzelnen Kapiteln wiederholt wird. Hier hätte die Lektorin des Aufbau-Verlages, in dem das Buch erschienen ist, ihres Amtes walten, kürzen und straffen müssen, um Dopplungen zu vermeiden.

Uwe-Karsten Heye: Die Benjamins: Eine deutsche Familie, Aufbau Verlag, Berlin 2014, 361 Seiten,
22,90 Euro.